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August 2023

Vom Glück der Vertiefung

Wenn wir Menschen das Gefühl haben, dass unser Leben fade ist, wenn wir uns verändern und noch einmal anderes anfangen wollen, denken wir heutzutage oft gleich an etwas ganz Neues: neuer Job, neue Wohnung, neues Hobby, neue Partnerin oder neuer Partner – bloß raus aus dem Gewohnten, sich bloß nicht immer wieder in denselben Gleisen bewegen ...

Dabei kann es oft viel spannender und bereichernder für uns sein, wenn wir uns mehr in das vertiefen, mit dem wir uns bisher eher an der Oberfläche oder in einer gewohnten, eingefahrenen Weise beschäftigt haben. Da ich diese beglückende Erfahrung der vertieften Beschäftigung in den letzten Wochen selbst wieder einmal gemacht habe, will ich für Sie heute etwas mehr darüber schreiben.

 

Neue Assoziationen, neue Ideen

Die Vertiefungserfahrung, von der ich Ihnen erzählen will, habe ich im Juli im Haus Buchenried gemacht, einem Seminarzentrum der Münchner Volkshochschule, das im von München ca. 30 Kilometer entfernten Örtchen Leonie direkt am Starnberger See liegt. „Hörend verstehen und spielend lernen“ war laut Ankündigung die Methode des Jazzworkshops, an dem ich teilnahm, eine Methode, mit der wir „die Musik erkunden und proben“ konnten. Dazu gehörte, verschiedene Aufnahmen der Stücke anzuhören sowie Unterschiede in den Arrangements wahrzunehmen und darüber zu sprechen. Im zweiten Schritt fingen wir damit an, die Stücke selbst zu spielen oder zu singen, mündend in der Erprobung von Wegen zur Improvisation und zum Solo. Außerdem gab es zwischendurch etwas Musiktheorie sowie Übungen zu Gehörbildung und Rhythmik.

Nun würde ich nicht behaupten, dass ich eine Jazzmusikerin bin, aber ich singe gerne und viel. Noch nie aber habe ich mit einem Trompeter, zwei Saxophonisten, einem Bassisten, einem E-Gitarristen, einem Schlagzeuger und einer anderen Sängerin für vier Tage in einer VHS-Band gespielt. Wer weiß, ob ich mich darauf eingelassen hätte, wenn es nicht dieses Angebot einer Volkshochschule gewesen wäre – keine große Sache also.

Bei den ausgewählten Musikstücken spielten wir Sängerinnen und alle Instrumentalist*innen das Thema zunächst einmal unisono durch, und dann gab es nacheinander für jede/n ein Solo. Obwohl es das gleiche Musikstück war, wurde es kein bisschen langweilig, sondern wir hatten einen Raum zum Ausprobieren und konnten uns immer mehr in das Musikstück vertiefen. Ich konnte bei den Wiederholungen erleben, wie mit jedem weiteren Mal meine Kreativität noch einmal neu und anders angestoßen wurde.

 

Energiestrom in mir

Ein musikalischer Moment, in dem ich das besonders intensiv wahrnahm, war bei dem Stück „My favorite things“  aus dem Musical „Sound of Music“. Da singt eine Nanny über das, was sie tut, wenn es ihr nicht gut geht:

Raindrops on roses and whiskers on kittens
Bright copper kettles and warm woolen mittens
Brown paper packages tied up with strings
These are a few of my favorite things ...

Dieser Musical-Song, in der Verfilmung von 1965 von Julie Andrews gesungen, ist für die Nanny eine Art Antidepressivum. Wenn sie traurig ist und an die „favorite things“ denkt, geht es ihr schon gleich ein wenig besser, so, wie es auch im Liedtext ausgedrückt wird:

When the dog bites
When the bee stings
When I'm feeling sad
I simply remember my favorite things
And then I don't feel so bad

Neben der Musicalinterpretation hat das Stück aber auch seinen Weg in den Jazz gefunden, etwa in der großartigen Interpretation von Al Jarreau – und so war es auch einer der Songs, die wir in unserer kleinen Band bearbeiteten.

Wir haben uns als erstes verschiedene Versionen angehört, darunter auch die von Julie Andrews und Al Jarreau, und noch weitere, völlig unterschiedliche Jazz-Interpretationen. Danach spielten wir im Kreis, und so hörte ich den einzelnen Instrumentalsoli in unserer Gruppe zu und dann auch noch der Sängerin, die links neben mir stand – sie alle spielten und sangen, was sie an Assoziationen und Ideen hatten.  

Ich fing an, Töne oder Verbindungen zwischen den Tönen zu hören, die ich vorher gar nicht hatte wahrnehmen können, und die in mir auf einmal neue Kreationen anregten für die Emotionalität, mit der ich das Lied singen konnte. Das war ein wenig wie beim Erlernen einer fremden Sprache – erst mal zuhören, die Sprecher beobachten, und dann selbst Laute produzieren.

Und dann war ich mit dem Singen dran. Ich überraschte mich selbst mit den neuen Tonlinien, die da aus mir herauskamen, die mir nie eingefallen wären, wenn ich mich nicht mit diesem Lied tiefer beschäftigt und die verschiedenen Interpretationen als Solis gehört hätte.

Und plötzlich fand ich überraschend eine Tonlinie, die mich noch ganz anders erfüllte als alles davor, ich fühlte mich in diesem Moment mit meiner Kreation richtig gut, da war so ein Energiestrom in mir und ein sehr glückliches Gefühl.

 

Ein Geschenk

Wir waren als Musikgruppe aber nicht allein im Haus Buchenried, sondern es gab noch zwei Parallelveranstaltungen, einen Kurs zur Aquarellmalerei und einen Italienisch-Kurs. Die Atmosphäre insgesamt in diesem Haus war geprägt von Menschen, die sich selbst ein Geschenk machen wollten, das Geschenk, etwas zu lernen, indem sie sich vertieften, nicht mit einem bestimmten Leistungsanspruch, sondern das Lernen an sich war für alle bereichernd. Dieses Haus bot dafür eine ganz wunderbare, geschützte Möglichkeit, es gab sonst nicht so viele Ablenkungen und lud dazu ein, sich auf die Möglichkeiten vertiefender Erfahrung einfach mal einzulassen.  

So drückte das auch der Leiter des Jazzworkshops aus: Jede/r von uns konnte da, wo sie oder er war, etwas entdecken, vertiefen, erweitern, ausprobieren, was sie oder er vielleicht sonst nicht machen würde, weil man diese Bühne oder diesen Rahmen nicht hat.

Die mit solcher Vertiefung einhergehende Erfahrung kann uns Dinge bewusst machen, die schon in uns sind, aber in ihrer Wertigkeit noch gar nicht bewusst in unserem Fokus sind. Denn wir müssen gar nicht immer alles neu und von vorn machen, sondern wir können eine Erfahrung von früher vertiefen oder vielleicht an etwas anknüpfen, das wir eher nur so ein bisschen nebenher betrieben haben.

Mit dem Vertiefen ist das ein wenig so, wie wenn wir eine Landschaft nicht nur von einem Aussichtspunkt aus betrachten, sondern in sie weiter hineingehen. Wir sehen dann immer mehr Besonderheiten und Details, haben neue Gedanken und neue Empfindungen. Dadurch können wir uns selbst neu entdecken und unsere Lebensfreude stärken.

 

Schokostückchen satt Rosinen

Ist diese Art der Erfahrung aber nicht auch anstrengend? Ja, das ist sie durchaus, sie bietet zwar Entspannung und Erfüllung, erfordert jedoch auch Fokussierung und Konzentration. Vermutlich deshalb ist sie ein wenig aus der Mode gekommen, weil heute eher Abwechslung und das stetige Ausprobieren von Neuem im Trend sind.

Das war nicht immer so, früher war es zum Teil sogar verpönt, etwas „nur“ anzufangen und nicht dabei zu bleiben. Ich kann mich zum Beispiel noch an eine sehr strenge Lehrerin in der Grundschule erinnern: wenn ich bei ihr ein Bild zu malen begonnen hatte, dann musste ich es auch zu Ende malen und durfte nicht mehrere neue Versuche starten. Und es ist auch noch nicht so lange her, dass man sich für einen beruflichen Weg entscheiden und den dann auch konsequent  bis zur Rente weitergehen sollte.

Ich will hier das eine gar nicht gegen das andere ausspielen, beides hat seinen Platz. Ich selbst liebe auch Abwechslung, will nicht jeden Tag immer von morgens bis abends nur dasselbe machen. Gleichzeitig möchte ich aber eine Bresche schlagen dafür, dass uns das Vertiefen einen völlig anderen Raum eröffnen kann. Und da spielt es keine Rolle, ob das jetzt in der Musik ist oder in der Malerei oder einem anderen Thema unseres Lebens, auf das wir uns wirklich einlassen.

Denn wenn ich etwas ausprobiere, dann habe ich die Probier-Variante, und die bietet mir etwas völlig anderes, als wenn ich in ein Thema tiefer einsteige und mich weiter und länger darin aufhalte, darin vertiefe. Darüber kann ich eine völlig neue Dimension dieses Themas und auch meiner eigenen Resonanz zu diesem Thema für mich finden.

Diese Art von Bereicherung bekomme ich eben nicht von Ausprobieren und Antesten, sondern das Vertiefen ist schon per Definition etwas nicht Oberflächliches. Damit meine ich aber nicht, dass es ein Wert an sich wäre, tiefer zu sein als an der Oberfläche. Doch in der Tiefe gibt es halt noch etwas anderes als dort – anders nicht nur im Sinne von mehr oder länger, sondern als eine vertiefende Erfahrung.

Ich halte es daher für einen Irrtum zu denken, dass wir uns mit dem Ausprobieren die sprichwörtlichen Rosinen aus dem Kuchen raussuchen können und damit das Bestmögliche erleben. Ein Irrtum ist es deshalb, weil wir mit diesem Rauspicken aus dem ersten Blickwinkel nur bestimmte Rosinen sehen können. Erst im Vertiefen, was dann aber auch bedeutet, vielleicht zu schwitzen, etwas durchzustehen, Motivationslöcher zu haben, nicht richtig weiterzukommen, werden wir noch andere Rosinen oder vielleicht Schokostückchen entdecken, von denen wir gar nicht wussten, dass sie existieren.