Zum Hauptinhalt springen

Kannst du Menschen glücklich machen?

Jedes Mal, wenn ich mit meiner Schildkröte spreche, hat sie mir etwas zu sagen, erreicht sie mein Herz und tiefere Schichten. Unmerklich merklich hat sie sich in meinem Leben breitgemacht und verkörpert für mich ein wichtiges Gegenüber, mit dem ich mich in vielerlei Weise austauschen kann. Wie es zu einer längeren Beziehung dazugehört, nervt sie mich auch hin und wieder, doch das tut dem Band, das wir miteinander geknüpft haben, keinen Abbruch.

Meine Schildkröte ist inzwischen meine vertraute Gefährtin, der ich immer wieder neu begegne und die dabei ihr eigenes Leben führt.

Auch bei meiner Arbeit beobachtet sie mich hin und wieder, und neulich hat sie mich gefragt:

„Bist du eigentlich so etwas wie eine Ärztin?“

Ich musste einen Moment überlegen und antwortete dann:

Ja, in manchen Aspekten kann man mich damit vergleichen: Ich bin eine Psychologische Psychotherapeutin, und das bedeutet, dass ich heilkundlich arbeite. Das ist auch die Aufgabe einer Ärztin ...“

„Und was heilst du?“, unterbrach mich die Schildkröte unerwartet schnell.

„Ich helfe Menschen bei der Heilung von psychischen Erkrankungen. Allerdings therapiere ich nicht wie die Ärztin mit Medikamenten, sondern mit Psychotherapie und Hypnotherapie. Und zu mir kommen auch Menschen, die nicht krank sind.“

Ich merkte, wie die Schildkröte stutzte und nachdachte. Dann fragte sie:

„Und was wollen die Menschen von Dir, die nicht krank sind?“

Ich musste auch einen Moment überlegen und sagte:

„Manche Menschen sind tatsächlich krank, manche sind eher in einer für sie belastenden Lebenssituation und wollen ein Problem lösen. Andere Menschen haben einfach Fragen ans Leben und hoffen, dass ich ihnen dabei helfen kann, für sie passende Antworten zu finden. Sie wollen zum Beispiel neue berufliche Ziele erreichen oder wollen sich selbst erforschen, um herauszufinden, wie sie in ihrem Leben glücklich werden können.“

„Glücklich?“, wiederholte die Schildkröte bedächtig, und es sah aus, als würde sie etwas an dem Begriff kauen:

„Kannst du denn Menschen glücklich machen?“

Die Frage der Schildkröte ließ mich nun kurz innehalten, dann schüttelte ich den Kopf und sagte:

„Jemanden glücklich zu machen ist ein Anspruch, den aus meiner Sicht niemand versprechen kann und es deshalb lieber sein lassen sollte. Aber manchmal ist ein Mensch tatsächlich tief berührt, wenn wir zusammen gearbeitet haben. Dann strahlt er oder sie mich an, und das ist einer der Schätze meiner Arbeit, das empfinde ich als besonders schön.“

Die Schildkröte nickte:

„Ja, ich habe auch schon einige Menschen mit strahlenden Augen gesehen, wenn sie bei dir herauskamen. Sie sehen anders aus, manchmal fast sogar größer als vorher. Aber warum wirken überhaupt so viele von euch Menschen meistens unzufrieden und strahlen so selten?“

Jetzt musste ich über ihre Frage lachen:

„Das, liebe Schildkröte, ist eine von den großen Fragen, auf die es bestimmt ganz viele individuelle Antworten gibt!“

Die Schildkröte nickte verständnisvoll, blieb aber beharrlich: 

„So leicht kommst du mir mit der Antwort aber nicht davon. Kannst du es nicht allgemeiner betrachten?“

Ich lachte wieder, nickte und gab mich vorläufig geschlagen:

„Generell denke ich, dass wir es gewohnt sind, in unseren jeweiligen Lebenssituationen immer wieder Erwartungen zu entwickeln. Unsere eigenen Vorstellungen sollen sich erfüllen, damit es uns gut geht.“

„Was meinst du zum Beispiel?“, warf die Schildkröte ein.

„Wir wollen“, gab ich zurück, „etwa eine bestimmte Art von Karriere, einen Partner oder eine Partnerin oder eine bestimmte Lebensform wie eine Familie mit Kindern. Und dann bewerten wir das Ergebnis danach, ob es mit unserer Erwartung übereinstimmt.“

Ich sah nun, dass die Schildkröte immer aufmerksamer zuhörte, sich keinen Millimeter von der Stelle bewegte und mir den Kopf aufmerksam zuwandte:

„Und was kommt bei der Bewertung dann heraus?“

„Etwas vereinfacht“, sagte ich, und schaute ihr in ihre klugen Augen, „kommt es für uns dann darauf an, ob und wie sich unsere Vorstellung erfüllt hat. Negative Bewertungen mögen wir nicht, also müssen wir uns anstrengen, damit wir selbst und auch unsere Mitmenschen unseren Erwartungen gerecht werden. Hin und wieder verstecken wir uns sogar aus Angst vor der antizipierten negativen Bewertung Anderer, obwohl wir uns gleichzeitig wünschen von einem anderen Menschen genau so geliebt zu sein, wie wir eben sind – mit allen Ecken und Kanten, mit allen ‚Macken‘“.

Jetzt war etwas Bewegung in die Schildköte gekommen, sie kam etwas näher auf mich zu und meinte:

„Du hast von Angst gesprochen, liebe Claudia. Warum bloß habt Ihr Menschen so viel Angst und wovor eigentlich?“

Ich fand die Frage gar nicht so einfach zu beantworten und versuchte, etwas Zeit zu gewinnen, indem ich zurückfragte:

„Haben wir das?“

Und dann, nach einer kleinen Pause, sagte ich nachdenklich:

„Ja, du hast wohl recht. Vermutlich haben wir Menschen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – vor allem Angst vor dem Leid und den für uns unangenehmen Gefühlen. Wir fürchten uns zum Beispiel vor dem Gefühl versagt zu haben, vor dem Scheitern generell und auch vor der negativen Bewertung durch andere Menschen. Oft haben wir Angst vor Krankheiten, vor Schmerzen oder davor einsam zu sein, möglicherweise haben wir auch Angst vor Schwäche, vor Armut ...“

Ich schaute zwischendurch so verstohlen wie möglich auf die Uhr, weil mein nächster Termin schon nahte, und fuhr fort:

„… und da gibt es bestimmt noch mehr Szenarien, vor denen wir Angst haben. Nicht jeder Mensch hat die gleichen Ängste. Und ich denke, dass sich fast alle Menschen vor dem Tod und dem Sterben fürchten.“

Der aufmerksamen Schildkröte war mein kurzer Blick auf die Uhr natürlich nicht entgangen, und sie fragte kopfschüttelnd:

„Warum seid Ihr Menschen bloß immer alle so gehetzt?“

Da lachte ich amüsiert – aber auch ein klein wenig schuldbewusst – auf:

„Wenn eine Schildkröte wie du mir diese Frage stellt, muss ich wirklich ein bisschen lachen, weil wir Menschen vermutlich per se als Spezies alle sehr beschleunigt auf dich wirken. Aber mal im Ernst: Wir Menschen wollen oft weiterkommen, weil wir glauben, dass es uns besser geht, wenn wir ein bestimmtes Ziel erreicht haben. Wir glauben also, dass es uns da, wo wir hinwollen, besser geht als da, wo wir sind. Die Gründe dafür sind vielfältig: Manchmal halten wir es für unsere Pflicht und meinen, dass wir etwas Bestimmtes erledigen müssen oder es ist eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Manchmal ist es aber auch einfach unsere Idee von der Welt. Wir glauben, dass es besser für uns ist mehr zu erleben, dass wir zufriedener sind, wenn wir zum Beispiel mehr Status und Besitz haben oder beruflich mehr erreichen.“

Jetzt war es die Schildköte, die – wenn auch beinahe unmerklich – zu lächeln schien:

„Und du hast jetzt auch wieder etwas Bestimmtes zu erledigen, ich verstehe schon. Danke für deine Antworten. Ich habe etwas zum Nachdenken bekommen. Und lass uns unser Gespräch bald fortsetzen.“

„Ja, das werden wir ganz sicher tun“, nickte ich, schon im Aufbruch. „Lieben Dank für deine Fragen, und bis bald, liebe Schildköte!“