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Schneekristallmomente und gute Vorsätze

Zum Jahreswechsel haben viele von uns bestimmt wieder gute Vorsätze gefasst, etwas in unserem Leben zu verändern. Zum Beispiel den Klassiker, etwas mehr Sport zu treiben. Was für eine Herausforderung, das über Silvester hinaus tatsächlich dauerhaft in die Tat umzusetzen!

Nach nicht allzu langer Zeit – manchmal gar jetzt schon, Mitte Januar –  ist der Wunsch, sich zu bewegen, zugunsten anderer Ersatzbefriedigungen in den Hintergrund getreten. Es verändert sich trotz guter Vorsätze nichts. Bis zum nächsten Silvesterabend ...

 

Gedanken im Schneefeld

Ich hatte mir vorgenommen, zu diesem Jahreswechsel über solche Vorsätze und die Möglichkeiten, Veränderungen anzugehen, einmal in Ruhe nachzudenken. Um mehr innere Klarheit zu erlangen und für das neue Jahr meinen Umgang mit den Vorsätzen zu verändern.

Wie so oft war ich wieder einmal in den Bergen des Salzburger Landes unterwegs – und meine Schildkröte, die mir schon häufig beim Nachdenken geholfen hat, begleitete mich diesmal.

Denn als ich vorigen Winter von dort zurückgekehrt war, hatte ich ihr vom Schnee erzählt, und da hatte sie mir offenbart, dass sie zwar viel von der Welt gesehen, aber noch nie die Erfahrung gemacht hätte, im Winter durch ein Schneefeld zu stapfen. Und dass es ihr Wunsch war, einmal mitzukommen und den dortigen, kalten Winter in seinem schneeig-weißen Outfit kennenzulernen.

Die Wunscherfüllung meiner lieben Schildkröte war für mich nicht allzu schwer, und ich nahm sie an einem der ersten Januartage mit bei einer Wanderung zu einem Schneefeld.

Es war herrlicher Sonnenschein, und da saßen wir nun, andächtig auf einem Stein schweigend nebeneinander, schauten auf die in der Sonne glitzernde Pracht und hingen jeweils unseren Gedanken nach.

 

Sekundenglück

Plötzlich hörte ich meine Schildkröte sagen: „Wie hell und glänzend das hier alles ist. Es sieht ganz anders aus als der Schneekristall, den ich mir immer vorgestellt hatte ...“

Kein Wunder, dachte ich, denn ich hatte ihr von einzelnen Schneekristallen erzählt, und hier lagen Millionen, ja wahrscheinlich sogar Milliarden von Schneekristallen nebeneinander, sich überlappend, gestapelt übereinander und in vielen Schichten. Ein einzelner Kristall war dabei in seiner originären Form überhaupt nicht zu erkennen.

Da aber wehten ein paar Windstöße einige Schneekristalle von einer in der Nähe gewachsenen schneebedeckten Graspflanze zu uns herüber. Bei einer der Böen schwebte plötzlich einer der Kristalle in die Richtung meiner Schildkröte ... – an ihrer Stirn vorbei in Richtung ihrer Nase.

Und da geschah es: Blitzschnell schoss ihre Zunge aus dem kleinen Maul, umschloss den Schneekristall und zog sich wieder zurück. Zunge und Schneekristall, beide waren verschwunden. Und der Schneekristall als Erfahrung? Weg war er, aufgelöst.

Meine Schildkröte schaute so verblüfft, dass ich mir nur schwer mein Lachen verkneifen konnte. Doch schon näherte sich ein weiterer vom Wind getragener Kristall ihrem Kopf. Diesmal hielt sie still, wollte sie sich doch diese besondere Erfahrung mit einem echten Schneekristall nicht entgehen lassen. Vielversprechend schwebte er sanft auf ihre Nase und landete. Da lag er für einige Sekunden ganz nah.

Doch auch dieses Glück währte nur kurz. Denn aus dem kleinen Kristallgebilde wurde langsam ein Wassertropfen, der nach seiner Verwandlung noch für einen Moment im Licht der Sonne schimmerte, bevor er an der Nase meiner Schildkröte hinunterrollte.

 

Fragiles Leben

Wie fragil dieser Schneekristallmoment gewesen war, dachte ich. Und in diesem Augenblick verstand ich plötzlich, was das mit den Vorsätzen für eine Veränderung des eigenen Lebens zu tun hatte. „Es täte uns allen gut, innezuhalten und uns einzugestehen, dass unser Leben so fragil wie dieser Schneekristall eben auf deiner Nase ist“, sagte ich zur Schildkröte. „Es so anzunehmen.“

Die Schildkröte nickte unmerklich, und murmelte nur gedankenversunken: „Ihr müsst euch bewusst werden, dass nichts für immer ist.“

Ja, sie hatte recht. Immer wieder, dachte ich, gibt es Veränderungen, Wandlungen, in der Form von Gelegenheiten und Chancen. Aber auch als Scheitern, als Versagen. Die Trennungen, Abschiede, Krankheiten und Krisen. Wenn wir versuchen, unsere eigene Verletzlichkeit anzunehmen, die Brüche und die Widersprüche zuzulassen, kann sich unser Leben in seinem Reichtum als ein sich wandelndes Geschenk mit den Jahren entfalten.

Und ich erinnerte mich an das, was ich einmal über Hirsche gelesen hatte, und erzählte es der Schildkröte: „Die werfen ihr Geweih ab und müssen zunächst eine Weile ohne umherlaufen. Sie können dann noch nicht kämpfen und zeigen sich verletzlich. Aber das ist die Voraussetzung dafür, dass ihnen ein prächtigeres neues Geweih wächst.“

Die Schildkröte hob ihren Kopf, schaute mich an und sagte: „Ihr Menschen wollt das nicht so annehmen. Ihr möchtet, dass das Neue immer schon da ist, bevor Ihr eure Verletzlichkeit annehmt als Teil eures Wachstums. Ihr wollt immer schon fertig sein, bevor etwas anderes verabschiedet wird.“ Dann senkte sie, vom für sie ungewöhnlich langen Monolog erschöpft, den Kopf und verstummte wieder.

 

Wachsen lassen

Ich aber wusste auf einmal, wie unsere Veränderungswünsche für ein neues Jahr wirkungsvoller sein könnten: Wenn wir uns vornehmen wollen, was besser werden soll, dann muss es nicht immer darum gehen, nur unsere Stärken weiterzuentwickeln. Sondern darum, auch unsere wunden Punkte, unsere eigene Verletzlichkeit in Betracht zu ziehen. Sie anzunehmen als eine ganz selbstverständliche Realität, denn diese Selbstverständlichkeit stellt ja eine Voraussetzung für unsere Entwicklung dar: Wir müssen sie nicht verstecken oder überwinden, sondern nur weil wir verletzlich sind, können wir wachsen.

Denn daraus kann sich etwas entwickeln, was jetzt vielleicht überhaupt noch nicht vorstellbar ist. Was wir normalerweise zu ignorieren versuchen und nicht so in den Blick nehmen wollen. Weil es uns etwas fremd und vielleicht sogar unangenehm ist, verletzlich zu sein.

Wenn wir aber unsere Veränderung als Wachsen verstehen, dann hat das auch etwas damit zu tun, ein Potenzial an den Stellen zu entwickeln, wo es uns ein Bedürfnis ist, es nicht mehr so zu machen wie bisher – ohne dass der eigene Weg schon klar ist. Wir müssen bereit sein, die Veränderung entstehen und wachsen zu lassen. Und dazu braucht es Vertrauen. Vertrauen in uns selbst, in die anderen Menschen und ins eigene Leben.

Sich in die eigene Verletzlichkeit hinein entspannen und beherzt losgehen, dachte ich, ob das ein Weg ist?

Da fiel mir ein Lied von Heinz-Rudolf Kunze ein, und ich fing an, der im ersten Moment verblüfften Schildkröte den Refrain vorzusingen:

Ich geh meine eigenen Wege,
Ein Ende ist nicht abzusehn.
Eigene Wege sind schwer zu beschreiben,
Sie entstehen ja erst beim Gehn.

 

Ein Tor zum Größeren

Nun sah es aus, als würde die Schildkröte, die bei meinem Gesang den Kopf im Rhythmus sanft mit bewegt hatte, lächeln. So saßen wir noch eine Weile am Rand unseres Schneefelds und freuten uns über die entstehenden und vergehenden Schneekristallmomente.

Wenn wir die Schneekristall-Fragilität unseres Lebens zulassen und bejahen können, sinnierte ich, wenn wir nicht immer nur einen großartigen Moment an den nächsten reihen wollen, wenn wir nicht immer meinen, alles müsste leicht und attraktiv aussehen, wenn wir Veränderung nicht als Kraftakt, sondern als Wachstum verstehen – dann sind wir in der Lage, wirklich etwas in unserem Leben zu verändern.

Denn mit der Erfahrung, sich im Herzen tief von den Schneekristallmomenten unseres Lebens berühren zu lassen, kann sich in uns ein Tor zum Größeren öffnen, was immer das Größere für uns sein mag. Immer ist es eine Frage des Mutes, diese Berührung zuzulassen. Statt sich dafür zu schämen, es sich zu erlauben, verletzbar zu sein, brüchig zu sein, damit das Leben durch uns durchströmen kann. Um dann beim Loslassen eintauchen zu können in das Getragensein, in dieses tiefe Erleben.

Das ist mein Vorsatz für dieses Jahr, und das wünsche ich auch Ihnen.