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Die Legende von Turtle Island

Warum wir alle auf dem Rücken einer Schildkröte leben

In einem der Texte hier im „Schildkrötenteil“ meiner Webseite habe ich schon den Glauben vieler indigener Völker an „Turtle Island“, also die „Schildkröteninsel“ erwähnt. Und heute will ich Ihnen mehr über die Geschichte erzählen, die hinter diesem Glauben steckt.

Der Legende der amerikanischen Ureinwohner zufolge stützt der Rücken einer Riesenschildkröte die Welt (die in ihren frühen Vorstellungen natürlich noch identisch mit Nordamerika war). Die langsame und bewusste Bewegung der Schildkröte sorgt für den Wechsel von Zeiten und Jahreszeiten. Die Ureinwohner nannten diese ihnen bekannte Welt

„Schildkröteninsel“. Es gibt auf YouTube ein wunderbares Video, in der Joel, ein Angehöriger der Ojibwe, eines indigenen Volkes im heutigen Südkanada und im nördlichen Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, darüber erzählt (https://www.youtube.com/watch?v=I0WNbz36EdI).

Joel erklärt dort, warum sein Volk die Welt „Turtle Island“ nennt. Das geht auf eine alte Überlieferung zurück, die mit einer großen Flut zu tun hat – genau wie in der Geschichte von der Arche Noah in der christlichen Überlieferung oder auch in der afrikanischen Kultur oder bei den Aborigines in Australien. Immer geht es um eine große Flut, die der Menschheit geschickt wurde, um sie von einem Leben auf Abwegen wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen.

In der Überlieferung der Ojibwe gab Gott vor langer, langer Zeit, als er die ersten Menschen auf die Mutter Erde gesetzt hatte, ihnen auch Regeln, nach denen sie leben sollten – die „Lehren der sieben Großväter“, in denen es um Weisheit, Liebe, Respekt, Tapferkeit, Ehrlichkeit, Demut und Wahrheit geht.

Aber mit der Zeit hatten die Menschen begonnen, sich respektlos ihren Nachbarn, ihren Familien und allen Kreaturen gegenüber zu verhalten. Gott war deswegen enttäuscht von den Menschen und so ließ er eine große Flut hereinbrechen – nicht, um die Welt zu zerstören (denn dann hätte er ein Feuer geschickt), sondern um sie von den bösen Menschen zu reinigen. Alle Bäche, alle Flüsse und alle Seen traten über die Ufer, und das Wasser begann weiter zu steigen und zu steigen und bedeckte das Land 40 Tage und 40 Nächte lang.

Nanabozho, ein Geist, der eine wichtige Rolle in den Geschichten der Ojibwe und anderer indigener Völker in Nordamerika spielt, war in dieser Zeit auf der Erde unterwegs, und als die Fluten kamen, hielt er sich an einem großen Baumstamm mitten in den Wassermassen fest, so fest, wie er nur konnte. Die meisten von uns Menschen wären in dieser Situation innerhalb der 40 Tage und Nächte längst gestorben, weil wir Wasser und Nahrung benötigen, aber da Nanabozho kein normales Lebewesen war, konnte er sich weiter mit Mühe festhalten. Schließlich war aber auch er sehr erschöpft, ihm entglitt der Stamm und er ging unter.

Doch eine große Schildkröte tauchte in dem Moment gerade unter ihm, nahm ihn auf ihren Rücken und tauchte mit ihm an die Wasseroberfläche. Nun lag Nanabozho auf dem Rücken der Schildkröte, inmitten der endlosen Wassermassen, hatte immer noch nichts zu essen und zu trinken, war dem Sonnenlicht schutzlos ausgeliefert und fühlte sich erschöpft und kraftlos. Weit und breit auf dem Wasser konnte er kein anderes Lebewesen entdecken.

Dabei hatten doch viele Tiere, die auch sonst im Wasser unterwegs sind, die Flut überlebt, so zum Beispiel der Biber, die Bisamratte, der Haubentaucher, der Seeleopard und das Walross. Die tauchten nun auf, versammelten sich um die Schildkröte, beobachteten Nanabozho und beratschlagten, was sie tun konnten, um ihm zu helfen. Die Schildkröte hatte schließlich eine Idee: „Wer von Euch kann mir etwas Erde vom Boden des Ozeans holen?“, fragte sie die anderen Tiere.

Das Walross reagierte als erstes und antwortete: „Ich bin das größte Tier und der beste Schwimmer, also macht Euch keine Sorgen, ich werde etwas Erde holen!“ Und es tauchte unter und tauchte und tauchte. Nun ist ein Walross ein Säugetier und muss ab und zu Luft holen, doch es hielt 10 Minuten, 15 Minuten, am Ende 25 Minuten die Luft an und versuchte zum Meeresboden zu gelangen, aber dann musste es wieder umkehren und an die Oberfläche zurückkommen. Völlig außer Atem berichtete es den anderen, dass es, obwohl es so lange, so schnell und so tief getaucht war, den Meeresboden nicht einmal hatte sehen können: „Das Wasser ist so tief, ich glaube nicht, dass wir den Boden erreichen können!“

Da ergriff der Seeleopard das Wort: „Ich bin ein viel besserer Schwimmer als du, ich werde es probieren …“. Er holte tief Luft und tauchte so schnell wie ein Torpedo in die Dunkelheit unter. Er hielt 15 Minuten, 25 Minuten, am Ende 30 Minuten die Luft an, aber dann musste auch wieder an die Oberfläche zurückkommen. Völlig erschöpft er zählte er den anderen Tieren: „Ich bin viel schneller und viel tiefer als das Walross getaucht, doch ich habe den Meeresboden noch nicht einmal aus der Ferne sehen können!“

Dann probierten es der Biber und der Haubentaucher, und viele andere Tiere, eines nach dem anderen, aber alle mussten sie wieder nach oben zurückkehren, ohne den Meeresboden gesehen zu haben. Schließlich war es schon später Nachmittag geworden, die Sonne sollte bald untergehen, und die Tiere wollten schon ihre Hoffnung aufgeben, Nanabozho noch helfen zu können. Als sie sich so traurig und müde austauschten, hörten sie plötzliche eine dünne Stimme, die sagte: „Ich werde es versuchen!“ Und sie schauten sich alle um, woher wohl die Stimme gekommen sein mochte, und da entdeckten sie die kleine Bisamratte, die noch einmal bekräftigte: „Ich werde es versuchen!“

Da lachten die anderen Tiere, und das Walross sagte: „Ach komm, Bisamratte, wenn ich es nicht geschafft habe, wirst es dir ganz bestimmt erst recht nicht gelingen, an den Meeresboden zu gelangen.“ Doch die Bisamratte, die Nanabozho helfen wollte, ließ sich nicht beirren und tauchte unter. Die anderen Tiere lachten weiter, schüttelten ihre Köpfe und warteten darauf, dass die Bisamratte schnell erfolglos wieder auftauchen würde. Sie warteten 20, 25, 30, am Ende 40 Minuten und begannen sich schon große Sorgen um die Bisamratte zu machen, als sie sie schließlich bewegungslos an der Wasseroberfläche auftauchen sahen. Sie legten sie auf den Rücken der Schildkröte und fühlten ihren Puls und horchten nach ihrem Atem. Doch sie mussten erschrocken feststellen, dass sie tot war.

Sie waren alle sehr traurig, aber dann entdeckte der Biber, dass die Pfote der Bisamratte etwas umfangen hielt. Er untersuchte es näher und stellte fest, dass es Erde war! Sie hatte es also tatsächlich geschafft, bis an den Meeresboden zu gelangen und etwas Erde zu ergreifen. Was für ein Held die kleine Bisamratte doch gewesen war!

So nahmen sie das kleine Stück Erde aus der Pfote der toten Bisamratte und legten es auf den Rücken der Schildkröte. In dem Moment, als sie das taten, begann der Rücken der Schildkröte zu wachsen und weiter zu wachsen, wurde immer größer und größer, und das kleine Stück Erde verbreitete sich immer weiter darauf. Plötzlich begann Gras darauf zu wachsen, dann Büsche, Bäume und Wälder und auch Flüsse und Seen, und der Schildkrötenrücken wuchs und wuchs immer weiter  um Nanabozho herum, der nun wieder essen und trinken und sich auf dem Land bewegen konnte – bis auf diese Weise schließlich eine ganze Welt entstand: Nordamerika , die Heimat Nanabozhos und der Ojibwe.

So weit die Geschichte von Joel. Mir gefällt sie, weil ich schon seit meiner Kindheit einen besonderen Bezug zu Schildkröten habe und sie liebe. Und ich finde es schön, dass sich die Mythen der christlichen und der indigenen Überlieferung mehr ähneln, als die meisten von uns erst einmal denken würden. Auch steckt für mich die Botschaft in der Geschichte, dass wir Menschen uns gar nicht um alles zu kümmern brauchen, und dass die Entwicklung und die Rettung der Welt nicht unbedingt von den Mächten abhängen muss, die wir für besonders kompetent dafür halten, sondern auch von einer Schildkröte und einer kleinen Bisamratte kommen kann. Ich mag es, dass diese Überlieferung so einfach ist, sie drückt so eine simple, kindliche Geborgenheit für uns Menschen innerhalb der Schöpfung und der Evolution aus, die mich in meinem Gefühl mehr anspricht als viele ach so komplexe Gedankengänge über das Warum und Wieso.

Und schließlich finde ich so hinreißend an der Idee von Turtle Island, dass wir Menschen uns wahrscheinlich behutsamer und achtsamer auf dieser Welt bewegen und verhalten, wenn wir daran glauben, dass sie der Rücken eines Lebewesens ist, und nicht ein Materieklotz, mit dem wir so einfach machen können, was wir wollen.

Seien wir also gut zu der Schildkröte, die uns nun schon so lange durch die Zeiten trägt …