Der Ghostbuster im Moskitonetz
In einem malerischen griechischen Fischerdörfchen am Ionischen Meer sitzt in einer kleinen Kneipe eine wundersame Gestalt: Sie trägt einen Umhang vom Kopf über den ganzen Körper bis zu den Füßen, der aussieht, als wäre er aus einem Moskitonetz genäht. Als die Frau in die Kneipe gekommen ist, hat man sehen können, dass der Umhang in seiner ganzen Länge auch den Boden berührt, sie ist damit nur mühsam gelaufen, und beim Hinsetzen hat sie den Stoff erst kunstvoll um ihre Füße drapieren müssen.
Ihr Auftritt erinnert ein wenig an einen der Ghostbusters aus der legendären Filmkomödie, und er ist nicht frei von Komik. Aber man sieht ihr an, dass sie selbst ihren Aufzug gar nicht komisch findet, sie lacht nicht, bewegt sich würdevoll und wirkt dabei ernst und ein wenig verkrampft. Ab und zu schaut sie verstohlen nach den Gesichtern der anderen Kneipen-Besucher und scheint erkunden zu wollen, ob sie sich wohl über sie amüsieren. Aber die haben sich nach der ersten Überraschung beim Hereinkommen offensichtlich schnell an sie gewöhnt und achten nicht mehr auf die ungewöhnliche Erscheinung.
In demselben Aufzug hat die Frau tagsüber auch schon in einem Tagungsraum mit 14 anderen Teilnehmern zusammengesessen, auch die haben anfangs etwas verwundert geschaut, aber sie nicht ausgelacht. Sie sind voller Verständnis und scheinen im Gegenteil die Lösung, die die Frau gegen die hier in der Tat sehr lästigen Mückenstiche gefunden hat, sehr kreativ und pfiffig zu finden. Dennoch: Die Frau ist und bleibt angespannt, sie verlässt die Tagung auch schon einen Tag früher und fliegt zurück nach Deutschland.
Nie wieder!
Diese Frau, liebe Leserinnen und Leser, war ich. Das war im September dieses Jahres, in Ammoudia, wohin ich wie schon im Vorjahr zu einer „Provokativen Vertiefungswoche“ gereist war. Bei diesen Vertiefungswochen geht es um dem „Provokativen Ansatz“, der auf der „Provokativen Therapie“ des US-amerikanischen Psychotherapeuten Frank Farrelly basiert, welche dieser in den 60er Jahren entwickelt hat.
Provokativ? Nein, das ist nicht etwa gemeint im Sinne von „verletzen“ oder „beleidigen“, wie Sie vielleicht im ersten Moment meinen könnten. Sondern im Sinne von „herauslocken“ oder „herausfordern“. Denn es ging Farrelly darum, vermeintlich hoffnungslose Fälle in der Psychiatrie aus den geschlossenen Abteilungen „herauszuprovozieren“ und ihnen wieder ein normales Leben zu ermöglichen.
Eigentlich hatte ich dieses Jahr gar nicht nach Ammoudia gehen wollen. Nicht wegen des Seminars oder aus Termingründen, und schon gar nicht, weil mir der Ort nicht gefallen hätte. Im Gegenteil, ich fand ihn mit seiner wunderbaren Bucht und den herrlichen Sonnenauf- und Untergängen ganz zauberhaft. Aber ich hatte bei der Seminarwoche im Vorjahr ein Erlebnis gehabt, das mich zwischenzeitlich zu dem Schwur „Nie wieder nach Ammoudia!“ geführt hatte.
Gefangen im Schmerz
Was war geschehen? Ich war richtig schlimm krank geworden durch Stiche der sehr vielen Mücken, die es hier in den nahegelegenen Tümpeln gab. Aber das waren nicht nur ein paar Stiche, wie sie im Sommer ja ganz normal sind, sondern ich war an beiden Beinen jeweils um die hundertmal gestochen worden, und das hatte eine sehr unangenehme allergische Reaktion ausgelöst.
Um richtig zu verstehen, was das mit mir machte, muss ich Ihnen erzählen, dass ich in puncto Mückenstiche traumatische Kindheitserinnerungen mit mir herumtrage. Bei Verwandtschaftsbesuchen im Rheinland an einem Altrhein-Arm hat es damals immer ungeheuer viele „Schnaken“, wie die Mücken hier genannt wurden, gegeben, die es ganz besonders auf mich abgesehen hatten. Ich sah immer aus wie ein Streuselkuchen, doch nicht nur das, ich litt sehr, weil ich ständig unter Beschuss war und Schmerzen, unendlichen Juckreiz und Angst vor neuen Stichen hatte.
In Ammoudia hatten die Stiche nun einen regressiven Schub ausgelöst, die Kindheitserfahrungen waren wieder sehr präsent, ich war wie damals hilflos in meinem Körpergefühl und meinem seelischen Schmerz gefangen, ich konnte gar nichts anderes mehr denken, mich kaum verständlich machen und musste viel weinen.
Ich redete mir ein, das irgendwie aushalten zu müssen, und stellte meine Füße im Seminar in einen Wassereimer – was mich zu trauen (auch so ein Kindheitsding) mir schon schwer genug fiel, weil ich nicht auffallen wollte. Erst viel zu spät bat ich dann einen ärztlichen Kollegen um Hilfe und ließ mir ein Antihistamin geben. Die wiederbelebten Seelenschmerzen und den Schock nahm ich aber auch noch mit nach Hause, und ich hatte dort noch richtig lange damit zu tun.
Nachwirkende Verunsicherung
Ich wollte nie wieder nach Ammoudia, und bin doch in diesem September schon wieder hingeflogen. Zwar verspannt und in Furcht, dass die Mücken mich wieder peinigen könnten, aber auch ausgestattet mit viel Willen, das Erlebte „umzudrehen“. „Warum tust du dir das an, was willst du denn beweisen?“, hatte mich vorher eine Bekannte gefragt. „Diese Dinge“, hatte ich ihr geantwortet, „passieren nicht noch einmal, das war letztes Jahr, und dieses Jahr wird es sicherlich anders sein!“
So viel zu meiner positiven Einstellung. Innerlich merkte ich dennoch, dass ich da eigentlich nicht hinwollte, ich hatte wirklich überhaupt gar keine Lust dazu und fühlte auch die nachwirkende Verunsicherung.
Schließlich war ich auf die Idee gekommen, ein Moskitonetz mitzunehmen, das ich mir zu diesem verrückten Umhang umgenäht hatte, der mich schützte.
Tatsächlich wurde ich wieder gestochen, aber das waren insgesamt über den ganzen Körper verteilt vielleicht lediglich zehn oder zwölf Stiche, und das waren für mich Peanuts. Eine andere Erfahrung als im Vorjahr. Aber wozu das Ganze, könnten Sie mich fragen.
Noch einmal konfrontieren
Ja, wozu also, obwohl ich es doch eigentlich gar nicht wollte, bin ich wieder hingeflogen? Die einfachste Antwort ist: Weil man nicht vor den eigenen Gedanken und Gefühlen weglaufen kann – die gehen immer mit. Natürlich hätte ich die erneute Begegnung mit diesem Ort und dadurch vorerst die damit verbundenen Emotionen vermeiden können, aber dann hätte ich immer noch sehr viel Angst vor vielen Mückenstichen und solch schrecklichen Nächten wie im letzten September, als ich mich meinen Empfindungen und Gedanken geradezu ausgeliefert gefühlt hatte.
So aber habe ich mir vorgenommen, die Sache wieder in die Hand zu nehmen und neu anzugehen: um nicht in Kindheitsgefühlen, Spannung, Angst und Schmerz hängen zu bleiben, sondern eine andere Lösung zu finden! Wie ich aus meiner Erfahrung als Psychotherapeutin weiß, klappt das immer – denn als Erwachsene können wir darauf vertrauen, für schwierige Situationen bessere Lösungen zu finden.
Schlussendlich ist das auch der Weg, wie wir uns aus Prägungen, alten Erfahrungen oder Kindheitstraumata befreien können: indem wir uns noch einmal – unter besseren Bedingungen – mit der alten Situation konfrontieren. Und nun erleben, dass es tausendmal besser ist als damals – zwar unangenehm, aber ganz anders als in den Momenten, in denen wir uns als Kind klein und hilflos gefühlt haben. Das heißt nicht unbedingt, dass es eine leichte Unternehmung wird; sie kann zumindest phasenweise anstrengend sein.
Liebevolles Karikieren
So ging es mir in Ammoudia: tiefenentspannt war ich da dieses Jahr wirklich noch nicht. Aber als ich von der Reise zurück war, spürte ich, wie wichtig es gewesen war, mich dieser Konfrontation zu stellen. Ich hatte mich überwunden, meinen Weg gesucht und gefunden – mein Ghostbustertrick hat funktioniert.
Und das ist noch nicht alles. Denn so nach und nach gehört es mit zur, wie ich es wirklich empfinde, Befreiung von der schlechten Erfahrung, dass ich mich darüber aus gesunder Distanz prächtig amüsieren kann. Neulich habe ich einem Bekannten von meiner Tortur im letzten und dem selbstgenähten Moskitonetzumhang in diesem Jahr erzählt, und wir mussten beide bei meiner Erzählung viel über das Bild lachen, das ich da – von Kopf bis Fuß behängt mit Schleppe hintendran – in meinem Anti-Mücken-Kostüm wohl abgegeben habe.
Da wurde mir bewusst, dass das gar nicht weit entfernt ist von einem Bestandteil der Provokativen Therapie, den wir „LKW“ nennen: das „liebevolle Karikieren von Wachstumsbremsen“. Das ist eine Provokation mit Augenzwinkern an den Stellen, an denen jemand in seinem oder ihrem Weltbild festhängt, sich beispielsweise auf irgendwelche überholten Lösungen fixiert oder vielleicht bestimmte sinnvolle Dinge nicht tut, die er oder sie aber eigentlich tun könnte.
Ganz genauso ist es hier zwar nicht, denn mein Moskitonetz-Outfit war keine Wachstumsbremse, sondern eine erste Hilfe für den Schritt heraus aus der inneren Gefühlsbremse. Gleichwohl spürte ich beim Erzählen davon und auch jetzt beim Schreiben die Befreiung meines LKW: des „liebevollen Karikierens meines Wachstumsschrittes“.
Meine Hoffnung ist: Wenn ich in zwei Jahren zum dritten Mal zum Seminar hinfliege (denn im nächsten Jahr habe ich im September schon andere Termine), besteht die reale Chance, dass ich komplett entspannt bin und auch wieder ohne den schicken Moskitonetz-Umhang herumlaufe. Mitnehmen werde ich ihn aber trotzdem: zum einen für alle Fälle, denn es gibt dort nun einmal einfach wahnsinnig viele Mücken, und zum anderen, naja ... vielleicht bin ich einfach ganz cool unterwegs mit dem Wissen, der Umhang ist im Gepäck – ich weiß ja, dass ich ihn herausholen könnte, und dass er wirkt.
Zum anderen sind ja vielleicht dann noch einmal ein paar von denen dabei, die diesmal da waren, und vielleicht können dann die, die wollen, den Umhang mal anprobieren, und vielleicht können wir uns davon erzählen, wie es im September 2022 war ... und gemeinsam lachen über meinen Aufzug, mit dem ich den Mücken und meinen schlechten Erfahrungen trotzte …