Die Freiheit zwischen Reiz und Reaktion
Im vergangenen Monat habe ich Ihnen hier an dieser Stelle davon erzählt, dass das, was wir wahrnehmen, nicht nur die äußere faktische Welt spiegelt, sondern auch durch unser Gedächtnis, unsere Bewertungen und Emotionen geprägt ist und davon, wie es uns gerade körperlich geht. Sogar unsere Bedürfnisse beeinflussen unsere Wahrnehmung.
Diese Wahrnehmungsphänomene könnte man auch so auf den Punkt bringen: Jedes innere Bild hat eine Tendenz, sich in der äußeren Welt zu realisieren.
Erst vor kurzem habe ich wieder erlebt, welche Überraschungen uns das bereiten kann.
Das neue alte Tor
Es war in Dortmund, wo ich in meinem Institut in der Regel einmal monatlich Hypnosefortbildungen für Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen anbiete. Die besondere Konstellation dieser Seminare besteht übrigens darin, dass sie in meinem Elternhaus stattfinden, in dem meine Mutter auch heute noch lebt.
Am Morgen des zweiten Veranstaltungstages stand eine Teilnehmerin vor der Tür zum Institut, und als ich öffnete und sie hereinlassen wollte, blieb sie für einen Moment erstaunt auf der Schwelle stehen und fragte mich: „Ist das schmiedeeiserne Tor vor eurer Tür neu?“
„Nein“, sagte ich lachend, „es ist nicht neu, es ist schon seit 30 Jahren hier.“ Dass es schon so lange den Eingang schützte, konnte die Teilnehmerin nun zwar nicht wissen, doch war sie seit ihrem ersten Seminarbesuch immerhin bereits viele Male an diesem Gitter vorbeigegangen, an die hundertmal sogar, wenn man das regelmäßige Heraus- und Hereingehen bei den Mittagspausen noch mit einberechnet.
Dennoch – wie sie jetzt verblüfft feststellen musste, hatte sie das Gitter bisher nie registriert. Es hatte für sie schlichtweg nicht existiert. An diesem Tag jedoch war es ihr tatsächlich erstmals aufgefallen.
Angeregte Fantasie
Wie war diese selektive Wahrnehmung zu erklären? Wir überlegten gemeinsam und kamen dann darauf, dass es mit etwas zu tun hatte, was am Vorabend in unserer Supervisionsrunde geschehen war. Da hatte nämlich ein teilnehmender Kollege im Anschluss an das Seminar eine hypnotische Trance, seinen ersten Zertifizierungsfall, vorgestellt, die wir gemeinsam im Detail durchgegangen waren. Er hatte ein wörtliches Transkript erstellt und uns außerdem die Sitzung als Audiodatei vorgespielt.
Wir alle hatten also die Hypnose gehört, uns darin vertieft und die Eindrücke auf uns wirken lassen. Da hatte ein Zaubergarten eine wichtige Rolle gespielt, und dieser Garten hatte ein Tor, das nur die Klientin mit ihren tiefen, verborgenen Wünschen öffnen konnte. Er hatte uns detailliert beschrieben, wie das Tor dadurch aufgegangen war und die Klientin hineinging. Er hatte ihr sodann den Zaubergarten präsentiert und wir hatten uns entsprechend ausführlich mit den Pflanzen darin beschäftigt.
Dieser Gang durch das Tor in den Garten stand metaphorisch für den Zugang der Klientin zu ihren eigenen inneren Schätzen, ihren Ressourcen, den Talenten, die sie in sich trug und derer sie sich vielleicht noch gar nicht so genau bewusst gewesen war. Sie hatte einen Schlüssel für den Zugang dazu erhalten, um sich selbst in diesem Garten näher zu kommen.
Das wiederum hatte die Fantasie meiner Seminarteilnehmerin derart angeregt, dass sie sich das Tor genau vorgestellt hatte, sogar mit Ranken, die da eingearbeitet waren. „Euer Tor hier“, erzählte sie mir nun, „das sieht genauso aus wie das Tor, über das wir gestern Abend gesprochen haben“.
Das Anhören der Trance hatte auch in ihr ein Bewusstsein für diese Art von Tor zum eigenen Inneren entwickelt, und sie hatte ihren Fokus unbewusst darauf gerichtet. Dieser innere Fokus hatte dazu geführt, dass sie nun in der äußeren Welt wie in einem Spiegel das schmiedeeiserne Tor vor unserer Eingangstür wahrnahm – das Tor zur Hypnose-Ausbildung, in der sie schon so viel Neues über sich gelernt und innere Schätze gefunden hatte.
Energie statt Magie
Für die unbewusste Fokussierung kennen wir alle ähnliche Phänomene aus der Alltagswelt. Ich habe zum Beispiel vor einiger Zeit einem Freund beim Umzug geholfen. Als ich ihn am Morgen abholte, um den Umzugswagen zu holen, strahlte er mich an: „Claudia, ich bin total froh, dass ich für heute noch einen Umzugswagen bekommen habe!“ „Na ja“, sagte ich, „du hast dich ja auch rechtzeitig darum gekümmert, warum hättest du keinen kriegen sollen?“
„Es ist der Hammer“, klärte er mich mit Erstaunen in der Stimme auf, „heute scheint es besonders viele Umzüge zu geben. Schau mal, an jeder Ecke hier ist so ein Umzugswagen unterwegs…!“
Dadurch, dass er heute seine volle Aufmerksamkeit auf das Thema Umzug gerichtet hatte, sah er überall die Umzugswagen, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit an anderen Tagen in nicht geringerer Anzahl gab.
Derartige Erfahrungen sollten wir aber nicht im Sinne eines magischen Denkens missinterpretieren. Denn es bedeutet nicht generell, dass wir uns nur etwas intensiv genug wünschen müssen, damit es sich tatsächlich realisiert.
Diese zauberhafte Vorstellung ist weit verbreitet und oft ganz harmlos – wie bei einer Bekannten von mir, die mir erzählt hat, sie finde immer einen Parkplatz am Wunschort, wenn sie sich das vorher ganz fest wünsche. Sie hat aber mit einem Augenzwinkern eingeräumt, dass das manchmal klappt und manchmal eben auch nicht.
Heftigere Folgen hatte diese Sichtweise bei einer Patientin, die wegen einer Psychose bei mir in Behandlung war. Sie war nicht mehr in der Lage zu unterscheiden zwischen ihren Vorahnungen und Wünschen und dem, was sich dann wirklich in ihrem Leben ereignete. So hatte sie sich gewünscht, dass ihre Tochter sie mal wieder anrufen würde, und dann hatte tatsächlich das Telefon geläutet.
Nun hatte sie die Vorstellung, dass sie den Anruf der Tochter mit ihrem Wunsch selbst bewirkt, also geradezu herbeigeführt hatte. Mehr und mehr entwickelte sich bei ihr eine Angst vor ihrer eigenen inneren Kraft, die, wie sie glaubte, ohne ihr absichtsvolles Zutun die Realität beeinflussen konnte. Denn das könnte natürlich auch bei zerstörerischen Gedanken oder Gewaltfantasien der Fall sein, die dann eine ebenso zerstörerische Wirkung hätten.
Meine Interpretation der Realisation unserer inneren Bilder ist eine andere: Im Fall der Tochter meiner Patientin war der Anruf vermutlich längst fällig. Und generell gilt für mich: Wenn wir uns etwas intensiv wünschen, hat der Wunsch an sich schon eine starke Kraft, und wenn wir dann unsere ganze Aufmerksamkeit, unseren ganzen Willen und Glauben in den Wunsch hineinstecken, dann entwickelt das eine viel stärkere Energie, als wenn wir Dinge nur einfach so nebenbei machen.
Da wirken in meinen Augen keine Magie oder irgendwelche übersinnlichen Kräfte, sondern wir nehmen einfach das, was um uns herum ist, mit anderer Aufmerksamkeit wahr.
Steuern und loslassen
Die gute Nachricht ist: Wir alle sind in der Lage, unsere eigene Aufmerksamkeit genauer zu beobachten und zu reflektieren, und wir können auch lernen, sie wie einen Scheinwerfer auf bestimmte Teile unserer Außen- oder Innenwelt zu lenken. So, wie wir auch unseren Atem bewusst beschleunigen oder verlangsamen, vertiefen oder verflachen können, wenn wir uns darauf konzentrieren.
Wenn ich hier von der Möglichkeit einer Aufmerksamkeitssteuerung oder -lenkung spreche, soll das aber bei Ihnen nicht den Eindruck erwecken, als müssten wir nur einen Hebel in uns umlegen und könnten dann in einen Dauerzustand der Wahrnehmungskontrolle kommen.
Ein Mönch, der fern der Welt den ganzen Tag meditiert, mag dem nahe kommen. Aber in unserer Welt gibt es so viele Einflüsse und Alltagsaufgaben, stürmen permanent so viele Reize auf uns ein, dass bewusste Aufmerksamkeitslenkung immer nur punktuell möglich ist, zumal der Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt und sehr komplex ist.
Und doch sind wir alle in der Lage, unsere Aufmerksamkeit für eine längere Zeit auf einen bestimmten Bereich zu richten, zum Beispiel bei der Arbeit, beim Sport oder auf einer Bühne. Doch nach derartigen Konzentrationsleistungen brauchen wir auch wieder eine Pause, in der es dann wichtig ist, dass unser Geist wieder frei flottieren kann.
Genauso, wie wir ja auch im Sport nicht den ganzen Tag nur Muskeln anspannen können. Wir können lernen, das öfter und länger zu tun, und es gibt Menschen, die das besser können als andere, aber es ist für uns funktional wichtig, dass wir auch loslassen und uns und unsere Aufmerksamkeit wieder ein bisschen treiben lassen können.
Wahrnehmung neu wahrnehmen
Eine Möglichkeit, sich die zeitweilige Aufmerksamkeitssteuerung bewusst und bereichernde Erfahrungen mit ihr zu machen, ist die Hypnose.
Menschen, die eine Hypnose zum ersten Mal erleben, bezeichnen dies häufig als einen Zustand wie „kurz vor dem Einschlafen“. Der Körper kommt zur Ruhe, die Umwelt tritt zurück und die Aufmerksamkeit ist auf die „innere Realität“ gerichtet. Es entsteht eine leichte Trance bei völligem Bewusstsein über ablaufende Vorgänge.
In der Hypnose können wir lernen, uns völlig neu selbst wahrzunehmen, erleben, dass unsere Wahrnehmung nicht so etwas ist wie ein Spiegel dessen, was wir als Wahrheit oder Realität betrachten, sondern dass das etwas mit unserer Perspektive zu tun hat, mit unserer Stimmung und unseren Bedürfnissen.
Wir können ein besseres Verständnis für den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Interpretation entwickeln, wenn wir in einer hypnotischen Trance durch ganz unterschiedliche Erfahrungswelten gehen können, die auch veränderbar sind. Das geschieht zum Beispiel durch Aufmerksamkeitslenkung mit allen Sinnen, mit Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, und durch Erinnerungen wie auch das Entwerfen neuer Visionen über eine Zukunft. So sind wir auf multiplen Ebenen des Seins in der Lage, neue innere Bilder zu entwerfen.
Auch in einer Meditation können Sie Ihre Wahrnehmungssteuerung trainieren, und Sie können zudem auch ganz einfach Ihre Sinne schärfen, indem Sie beginnen, sich zu verlangsamen und in Details zu involvieren, zum Beispiel wenn Sie bewusst beobachten, wie eine Wolke sich verändert, und dabei zu spüren, was mit Ihrem Atem geschieht.
Der höhere Grad an Freiheit
In der Reflexion darüber, welche Kräfte in uns unsere Wahrnehmung beeinflussen, steckt eine befreiende Kraft.
Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl hat das so formuliert: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Wenn wir uns dessen bewusst werden, dass es einen Raum gibt zwischen dem Außen um uns herum und unserem Inneren, und wenn wir diesen Raum zwischen dem Reiz und unserer Reaktion für uns besser kennenlernen, haben wir viel mehr Möglichkeiten als vorher.
Das, was Ihnen vorher unbewusst ist, können auch Sie für sich in Ihr Bewusstsein holen, und dann erringen Sie einen höheren Grad an Freiheit, als wenn Sie einfach nur das, was Sie wahrnehmen, als objektive Fakten bewerten und sich damit nur in einem automatisierten Raum bewegen.
Wenn Sie sich klarmachen, welche Gedanken, Emotionen und körperliche Reaktionen Ihre Aufmerksamkeit beanspruchen und somit Ihre Wahrnehmung beeinflussen, haben Sie viele Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen und freie Entscheidungen zu treffen.