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Dezember 2023

Die Kraft der Hoffnung

 

Vor über 20 Jahren hatte ich über einen Zeitraum von insgesamt eineinhalb Jahren, die mir schier unendlich erschienen, Tag und Nacht quälende Rückenschmerzen, ausgelöst durch einen Bandscheibenvorfall. Erst während eines Sabbatical-Jahres 2003 in den USA, in dem ich u. a. in Phoenix in Arizona in den Archiven der Milton Erickson Foundation arbeitete, merkte ich, dass sie ganz langsam, fast unmerklich, wieder nachließen und schließlich verschwanden.

Woran das lag? Es hatte etwas mit Hoffnung zu tun, einer der elementaren Ressourcen, der uns zur Verfügung stehenden Errungenschaften, die wir gar nicht erst erwerben müssen, sondern die wir schon in uns tragen. So gibt es etwa die grundlegenden zentralen Ressourcen wie Kraft und Lebensfreude, über die ich hier an dieser Stelle im Blog schon geschrieben habe, und im vergangenen Monat hatten wir allgemein auf das immense Potenzial derartiger Ressourcen geschaut, auf das wir immer zurückgreifen können.

Heute will ich Ihnen also von einer solchen Ressource, nämlich der Ressource Hoffnung, erzählen, und in diesem Zusammenhang zunächst von meinen Rückenschmerzen, die sich damals in Phoenix zu verändern begannen.

 

Der Mensch hofft immer auf Verbesserung

Die Schmerzen waren vorher so schlimm gewesen, dass ich nach vielen fruchtlosen Behandlungsversuchen schließlich nicht mehr daran glaubte, sie jemals wieder loszuwerden. In Phoenix aber begann sich für mich dann doch etwas zu verändern, zunächst mit einer ersten durchgeschlafenen Nacht, in der ich nicht, so wie sonst, vor Schmerzen aufwachte, sondern lediglich am Morgen eine vage Steifheit verspürte. Diese erste Nacht, verbunden mit meinem neuen, aufmerksamen Blick für die neue Möglichkeit meiner Lebensveränderung, war der Beginn des Heilungsprozesses.

Obwohl der organische Befund – entzündliche Abnutzungserscheinungen in der Lendenwirbelsäule – weiterhin vorhanden war, erforschte ich, dank der Hoffnung auf weniger Schmerzen, über einen Zeitraum von insgesamt einem Jahr, unter welchen Umständen die Schmerzen nachließen oder zeitweise sogar vollständig verschwanden. Mit wachsendem Erfolg!

Rückblickend betrachtet hat sich die Hoffnung in meinem Leben meistens wie hier in dieser Erfahrung mit meinen Rückenschmerzen zunächst als ein kleines, berührendes Ereignis zu erkennen gegeben, das – wie ein Wink des Schicksals – als Richtungsweiser fungierte.

Was aber ist nun eigentlich das Wesen der Hoffnung? Hoffnung in seiner ursprünglichen sprachlichen Bedeutung wird in den meisten Lexika definiert als „Glaube an ein erwünschtes Ereignis in der Zukunft“ und steht in engem Zusammenhang mit einem Objekt, einem Menschen oder einer Handlung, die zum Hoffen veranlasst. Synonyme für den Begriff „Hoffnung“ sind unter anderem „Орtimismus“, „Vertrauen“ und „Zuversicht“, aber auch „Ausweg“ oder „Chance“.

Philosophen, Schriftsteller und Dichter aller Couleur sowie aller Epochen haben sich immer wieder mit der Hoffnung als menschlichem Lebensprinzip auseinandergesetzt. Auch das Gedicht Hoffnung von Friedrich Schiller handelt von der prinzipiellen Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der erwartungsvolle Wunsch, dass das, was kommt, besser sein möge als das gegenwärtige Leben, lässt alle Menschen träumen und gibt damit auch ihrer jetzigen Situation einen zusätzlichen, neuen Glanz:

Es reden und träumen die Menschen viel

Von bessern künftigen Tagen;

Nach einem glücklichen goldenen Ziel

Sieht man sie rennen und jagen.

Die Welt wird alt und wird wieder jung,

Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.

In diesem, in den weiteren Strophen die Lebenszyklen der Generationen beschreibenden Gedicht finden sich alle wesentlichen Bestandteile der Hoffnung wieder: sowohl die dem Menschen innewohnende Fähigkeit von Herz und Verstand, sich etwas Erwünschtes vorzustellen, als auch die Kraft der Vorstellung des eigenen Handelns. Dazu kommt schließlich noch eine aufmerksame Wahrnehmung der aktuellen Befindlichkeit der Seele, die als innere Stimme den Weg weist.

Hoffnung hilft dabei, sich mit einem zunehmend guten Gefühl in der Gegenwart auf den Weg in eine noch bessere Zukunft zu machen. Die Hoffnung ist vergleichbar mit dem ersten staunenden Gefühl der Verliebtheit, die eine Erfüllung verspricht, die es im bisherigen Leben noch nicht gegeben hat. Dennoch enthält sie keineswegs den manchmal negativ wahrgenommenen Beigeschmack des „Sich-etwas-schön-Redens“ oder der rosarot gefärbten Brille. Sie ähnelt vielmehr dem ersten Lichtstrahl des Sonnenaufgangs, der jeder noch so dunklen Nacht garantiert folgen wird.

Die Aufmerksamkeit für solche kleinen Dinge des Lebens ist es, die – in Verbindung mit der Würde eines Menschen in seiner konkreten Lebenssituation – den Blick für seine vorhandenen Möglichkeiten freigibt. Hoffnung auf eine Veränderung an einer Stelle, an der das Leben festgefahren zu sein scheint. Hoffnung darauf, einen Ausgang aus den andauernden Problemen oder der schmerzhaften Krankheit zu finden, ein neues, gutes Ende für eine vorher bereits häufig erzählte, scheinbar aussichtslose Geschichte zu erschaffen.

Damals in Phoenix konnte ich die Erfahrung machen, dass Hoffnung immer eine Bewegung erzeugt, die wiederum Veränderung fördert, sei es in der Art der Wahrnehmung einer Situation, im körperlichen wie psychischen Befinden oder im eigenen Verhalten.

Mit dem nächsten Tag, dem nächsten Schritt, der nächsten Arbeitsstelle, der nächsten Stadt etc. finden Veränderungen zum Besseren statt. Dabei ist natürlich auch die Eigeninitiative wichtig. Hoffnung ist immer an Selbstbestimmung gekoppelt. Ich kann etwas entscheiden, tun, in die Wege leiten, das einen Unterschied bewirkt. Selten ist Hoffnung etwas ausschließlich Passives.

Viele Patienten, die sich in eine Psychotherapie begeben, sind der Annahme, dass der oder die Psychotherapeut/in etwas für sie tut. Hoffnung entsteht in dieser Ausgangssituation dadurch, dass der Patient dem Psychotherapeuten die Macht und Fähigkeit zuschreibt, etwas Positives bewirken zu können, und im weiteren Verlauf durch das unmittelbare Erleben einer kleinen positiven Veränderung.

Auch die Zuschreibung an den Therapeuten ist eine, wenn auch kleine, aktive Handlung, die der Patient vornimmt, und es hat sich in vielen Studien erwiesen, dass Heilung stark davon abhängt, ob ein Patient an die Wirksamkeit einer Behandlung glaubt. Mit der Hoffnung und dem Glauben an eine Veränderung werden die Selbstheilungskräfte stimuliert, die wiederum die Genesung auf allen Ebenen des Seins fördern.

 

Facetten der Hoffnung

In seinem Buch Die Anatomie der Hoffnung von 2003 beschreibt der US-amerikanische Arzt Jerome Groopman viele wesentliche Aspekte des Hoffens. Unter anderem unterscheidet er die Hoffnung vom Optimismus. Anders als der eher allgemeine Optimismus ist Hoffnung immer richtungweisend. Hoffnung bezeichnet er als Gefühl, das wir erleben, wenn wir vor unserem inneren Auge einen Weg in eine bessere Zukunft wahrnehmen.

Glaube und Erwartungen sind die Kernelemente der Hoffnung. Man kann sie sich als Domino-Effekt vorstellen, bei der jede Verbesserung die nächste graduelle Veränderung wahrscheinlicher macht. Und das Wachstum der Hoffnung ist nicht linear, sondern immer weiter expandierend. Natürlich gibt es auch Momente der Angst und des Zweifels, die die Hoffnung schmälern können.

Ein wichtiger Aspekt der Arbeit von Jerome Groopman besteht außerdem in der Unterscheidung zwischen falscher und wahrer Hoffnung. Eine falsche Hoffnung kann dann erzeugt werden, wenn ein Arzt einen Patienten wider besseres Wissens in dem Glauben lässt, dass der organische Befund sich zum Positiven verändert habe. Patienten haben immer ein Recht zu hoffen. Dieses Recht ist, auch wenn der wissenschaftliche Anschein zunächst dagegen spricht, unbedingt von der falschen Hoffnung zu unterscheiden. Vielmehr steht das persönliche Recht auf Hoffnung im Zusammenhang mit organischen Heilungschancen eines Menschen einerseits und seiner mentalen wie seelischen Heilung andererseits.

Die schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross sprach von fünf Stadien, die ein sterbender Patient in der Regel durchläuft. Als Erstes kommt die Verleugnung, die mit dem Schock über die Diagnose beginnt (die Arzte müssen sich geirrt haben, falsches Röntgenbild etc.). Nach der Verleugnung folgt der Ärger über die Ungerechtigkeit der Welt, und für diejenigen, die an Gott glauben, ist er verbunden mit der Frage: „Wie konnte Gott mir das antun?“ Voller Verzweiflung darüber, dem eigenen Schicksal nicht entrinnen zu können, treten die Patienten in das Stadium ein, dass Kübler-Ross „Verhandeln“ nennt. In diesem Stadium versucht der Patient, mit Gott zu verhandeln oder dem Schicksal zum Beispiel in Form eines sozialen Engagements ein Zugeständnis zu machen.

Wenn sich der Gesundheitszustand trotz der Verhandlungen nicht bessert, kommt es zur Depression. Jetzt nimmt der Patient die volle Realität seiner Prognose wahr. Er kann die Realität nicht länger verleugnen, und das fünfte Stadium, das der Akzeptanz, beginnt. Trotz Akzeptanz ist dieses Stadium immer noch von der illusorischen Idee geprägt, dass sich ein Wunder ereignen werde, dass eine Heilung in letzter Minute immer noch möglich sei und sich der Tod vermeiden ließe.

Diesen Glauben nennt Kübler-Ross „nicht sterbende Hoffnung“. Sie hatte völlig Recht damit, dass wir keinen Patienten aufgeben sollten – unabhängig davon, ob er unheilbar krank oder ob eine Heilungschance erkennbar ist. Zu Beginn der Erkrankung ist das Recht, selbst gegen jede Wahrscheinlichkeit zu hoffen und sich ein Wunder herbeizusehnen, vollkommen akzeptabel. Irgendwann kommt eine Zeit, in der das Unausweichliche akzeptiert werden muss, aber auch dieser Schritt schließt die Hoffnung nicht gänzlich aus.

 

Wie die Hoffnung wirkt

Kann das Gefühl der Hoffnung auch zur klinischen Genesung maßgeblich beitragen? Und falls es eine Biologie der Hoffnung gibt, wie weit reicht sie und wo sind ihre Grenzen? Oder entsteht Hoffnung vielleicht als Nebenprodukt bestimmter biologischer Veränderungen, ohne dass es eine Kausalität gibt?

Eine Methode, sich mit der Biologie der Hoffnung näher zu befassen, ist die genauere Untersuchung des Placeboeffekts. Beschäftigt man sich mit den Placebo-Experimenten in der Schmerzforschung, stößt man u. a. auf die Arbeiten des auf diesem Gebiet namhaften italienischen Neurowissenschaftlers Fabrizio Benedetti.

Um die Experimente über Schmerz und die Wirkung von Placebos zu verstehen, müssen wir wissen, wie die Schmerzempfindung zustande kommt. Zum Beispiel anhand einer Schnittwunde am Finger: Nervenenden im Gewebe leiten Schmerzsignale ins Rückenmark, von dort werden sie zum Gehirn weitergeleitet. Unterwegs gibt es Zellen, die die Schmerzsignale an- und abstellen können (On- und Off-Zellen). Während die On-Zellen den Schmerz verstärken, führen die Off-Zellen zu einer Unterbrechung des Schmerzsignal-Kreislaufs.

Hätten wir überwiegend Off-Zellen, würden wir ohne Schmerzempfindung durch die Welt gehen, als hätten wir einen Panzer – was gefährlich wäre. Drogen wie Morphin, die aus dem Opium gewonnen werden, können Schmerz blockieren. Mit ihrer Hilfe werden die On-Zellen an ihrer Arbeit gehindert. Wenn die On-Zellen nicht mehr arbeiten, können die Off-Zellen Schmerzempfindungssignale blockieren, sodass sie nicht mehr weitergeleitet werden. Die Schmerzempfindung bleibt aus.

Was das mit Hoffnung zu tun hat? Unser Körper produziert natürliche Opiate. Endorphine und Enzephaline sind körpereigene Substanzen, die ausgeschüttet werden, wenn ein Patient davon überzeugt ist, dass kein Schmerz auftreten wird. Der Glaube und die Erwartung, dass der Schmerz ausbleibt, führen zur Ausschüttung der körpereigenen Morphine und verhindern so die Weiterleitung des Schmerzsignals.

 

Es gibt immer eine Chance und einen Ausweg

Der amerikanische Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut Milton H. Erickson (1901–1980), der die moderne Hypnose und Hypnotherapie maßgeblich prägte und ihren Einsatz in der Psychotherapie förderte – und mit dessen Nachlass ich mich seinerzeit in Phoenix beschäftigte und der mich in meiner Arbeit sehr beeinflusst hat – , war ein Meister darin, das Hoffnungspotenzial seiner Patienten zu beleben, sie zu aktivieren und ihnen das Gefühl zu geben, dass eine positive Veränderung möglich ist.

Er verstand es wie kaum ein anderer, seinen Patienten das Gefühl zu geben, dass es immer eine Chance und einen Ausweg gibt – manchmal auf höchst unkonventionelle Weise! Sein eigener Lebensweg und seine Fähigkeit, in seinem Leben mit wiederkehrenden und schließlich immer weiter zunehmenden starken Schmerzen und Beeinträchtigungen konstruktiv umzugehen, waren maßgeblich verantwortlich für seine innere Grundhaltung, die von unerschütterlicher Zuversicht geprägt war. Jede Erfahrung war für ihn lebensbereichernd, da sie ein neues Mysterium für die Gesetzmäßigkeiten des Lebens eröffnete und ihm damit die Möglichkeit bot, etwas Neues zu erfahren.

Wenn Sie mehr darüber erfahren wollen: In meinem 2007 zusammen mit Dan Short, dem langjährigen Co-Direktor der Milton H. Erickson Foundation in Phoenix, verfassten Buch Hoffnung und Resilienz. Therapeutische Strategien von Milton H. Erickson (auf dessen Kapitel über die Hoffnung auch dieser Blogbeitrag basiert)sind die fundamentalen Prinzipien von Ericksons Arbeit und seine vielfältigen therapeutischen Strategien gebündelt dargestellt.

Der lebensbejahende Optimismus ist einer der Grundpfeiler von Ericksons Therapie, zusammen mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Resilienz eines Menschen – seine grundsätzliche, manchmal ihm selbst verborgene Kompetenz, die eine Lebensveränderung zum Besseren ermöglicht: Es gibt immer wieder eine Tür, die sich öffnet!