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In Beauty may you walk

Auf dem Weg der Schönheit zu einem würde-vollen und scham-losen Leben

Im letzten Jahr wurde ich eingeladen, im Juni dieses Jahres in Zürich einen Workshop im Rahmen der „4. Hypnosystemischen Tagung“ zu halten, deren Motto „Scham-los & Würde-voll!“ lautete.

Ich fühlte mich gleich angesprochen, weil mich das an meine Zeit in Arizona beim Turtle Island Project erinnerte. Der Schönheits-Weg, der in einem alten Gebet der Navajo, dem größten der indianischen Völker in den Vereinigten Staaten, formuliert ist und dem ich damals begegnete, kam mir in den Sinn:

In beauty I walk
With beauty before me I walk

With beauty behind me I walk
With beauty above me I walk
With beauty around me I walk

Dieser Weg der Schönheit ist das, was die Navajo mit Hozho bezeichnen. Und so beschloss ich, auf der Tagung dazu einen Workshop anzubieten. Was aber haben Würde und Scham mit den Navajos zu tun? Lassen Sie mich Ihnen heute ein wenig davon erzählen.

 

Scham und Würde

Im Turtle Island Project, das ich vor nun bald zwanzig Jahren kennenlernte, beleuchten „westliche“ medizinisch-therapeutische Professionen und indigene Heiler zusammen aus unterschiedlichen Blickwinkeln das persönliche und kollektive Leid wie auch das Potential der ratsuchenden Menschen und helfen ihnen dabei, sich selbst im eigenen Heilungsprozess zu engagieren.

Gegründet wurde das Projekt 1986 vom meinem im Januar 2022 verstorbenen Lebensfreund Carl Hammerschlag, Psychiater und Facharzt für Psychoneuroimmunologie, und Mona Polacca, die damals vor allem als Sozialarbeiterin in der Suchtbehandlung und -Prävention tätig war und mittels zeremonieller Arbeit vielen suchtkranken Jugendlichen ihren persönlichen Lebenssinn wieder zugänglich machte. Gerade im Umgang mit Sucht geht es viel um das Thema, Scham loszuwerden und in der Suche nach einem lebenswerten Leben die eigene Würde wieder zu fühlen.

Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks, der sich viel mit Würde, Scham und Menschenrechten beschäftigt hat, bezeichnet Würde als Thema, das zum persönlichen Wachstum dazu gehört und untrennbar mit der uns Menschen innewohnenden Verletzlichkeit verknüpft ist.

Würde und Verletzlichkeit gehen demnach immer Hand in Hand. Denn diese angeborene Eigenschaft hängt direkt von unserem emotionalen Gleichgewicht und unserem Selbstwertgefühl ab.

Stephan Marks nutzt in seinen Vorträgen eine Metapher zum Thema Scham und Würde von Salman Rushdie: „Scham ist eine Flüssigkeit, die in einen Becher gefüllt wird. Wenn zu viel Scham da ist, fließt der Becher über.“

Das Glas kann also die Flüssigkeit (die Scham) nicht in sich halten. Dann wird es schmerzlich, beschämend – die Scham muss abgewehrt werden. Würde-Arbeit ist für Stephan Marks vor allem Scham-Arbeit in der Hinsicht, dass das Thema Scham enttabuisiert werden muss und als wichtiges Gefühl nicht nur vom Einzelnen integriert wird, sondern auch in der Gesellschaft einen Platz hat.

Grundsätzlich sieht er vier Themen, mit denen das menschliche Schamgefäß gefüllt wird: Missachtung, Grenzverletzung, Ausgrenzung und Verletzungen der eigenen Werte Durch sie werden jeweils menschliche Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität verletzt.

Das Schamgefäß kann durch Würdeerfahrungen wieder geleert werden: also durch Respekt, Achtung, Wertschätzung, Anerkennung, Liebe – jemanden sehen, wahrnehmen, ihm oder ihr zuhören – statt sie oder ihn abschätzig zu behandeln oder zu bewerten.

Die Würde eines Menschen zu achten, heißt für Stephan Marks, ihm oder ihr überflüssige, vermeidbare Scham zu ersparen. Das bedeutet, einen „Raum“ zur Verfügung zu stellen, in dem er oder sie Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität erfährt.

 

Grundlage für Erneuerung und Selbst-(er)-findung

Auch in der Trancearbeit in Gemeinschaft bei den Nordamerikanischen indianischen Völkern, wie ich sie in Arizona kennengelernt habe, geht es um die Bewältigung des Zuviels an negativen Empfindungen, um Ausgrenzung und Beschämung, um Sucht und Suchen und vor allem um eine Ermächtigung, in die eigene Würde zu treten. Sich selbst wieder als würde-voll zu erleben und wahrzunehmen, wie es möglich ist, scham-los zu sein.

Für die Navajo ist das gesamte Universum belebt, der universale Geist, Wakantanka, das große Eine, der Great Spirit durchdringt alles. Wir als Menschen stehen damit in Verbindung, mit den Pflanzen, den Tieren, der Erde, die Großmutter Erde genannt wird, wie auch mit den Sternen und den Planeten.

Ein zentrales Thema der Navajo ist das Erlangen des bereits erwähnten Hozho – ein Begriff, der sich nicht mit einem Wort übersetzen, aber mit einigen Worten umschreiben läßt.

Als Begriff mit fünf lebenszentralen Bedeutungen beschreibt Hozho die notwendigen Grundlagen für kraftvolle Erneuerung und Selbst-(er)-findung im eigenen Leben und der Gemeinschaft. Sie beinhalten die Werte der Navajo und bilden die Basis für das würdevolle Zusammenleben.

 

Die Bedeutungen von Hozho

Dass Hozho bei den Navajo auch Gesundheit bedeutet, legt nah, dass die Würde eines Menschen eng mit seiner seelischen und körperlichen Gesundheit verbunden ist.

Im engeren Sinne bedeutet Hozho erstens Wahrheit - und damit ist keine absolute faktische Wahrheit über die Welt gemeint, sondern eine Wahrheit, die ich für mich selbst finde.

Die zweite Bedeutung von Hozho ist Schönheit, und auch hier geht es nicht etwa um unsere westlichen Schönheitsideale wie z.B. einen attraktiven Körper oder ewige Jugend, sondern um die Schönheit eines menschenwürdigen Lebens.

Die persönliche wahrhaftige Schönheit im eigenen Leben zu finden und zu pflegen, schenkt inneren Frieden und erzeugt Harmonie – das ist die dritte Bedeutung von Hozho.

Harmonie entsteht außerdem durch Balance, die vierte Bedeutung. Sie steht für ein Leben außerhalb der Extreme, was nicht bedeutet, dass man ständig in seiner Mitte ist oder gar mit der Zeit erleuchtete Züge aufweist. Eher ist damit gemeint, dass jeder von uns mit dem Blick nach innen feststellen kann, ob und wann er oder sie innerlich friedlich und damit balanciert ist.

Die vielleicht größte und dabei am schwierigsten in die westliche Welt zu übersetzende Bedeutung von Hozho ist Spirit. Das Weltverständnis der Navajo sieht die Dinge in einem zyklischen Prozess miteinander verwoben. Jedes und alles existiert und wird, immer und immer wieder. Jede Person, jeder Gedanke und jede Handlung, das ganze Universum fließt im Zyklus. Der Mensch als Ganzes – als Organismus und mit all seinen Gedanken, Gefühlen und Handlungen – ist in einer bewegten, interaktiven, sich wechselseitig beeinflussenden Weise mit der Außenwelt verbunden.

Die aufmerksame Wahrnehmung stellt diese Verbindung her und ist im Modus des Hozho lernend und offen nach innen und außen. Die Navajo sagen: Spirit ist diese unendliche Bewegung, die durch alles fließt und alles verbindet und ordnet; aus der alles kommt und in die alles einströmt.

 

Zeremonien als Würde-Arbeit

Die Grundidee von Hozho ist, sich als Mensch im Laufe des Lebens immer wieder zu wandeln und dabei seinen Talenten und Möglichkeiten gemäß weiterzuentwickeln. Es ist ein Identitätskonzept, das für mich Teil einer modernen westlichen Spiritualität sein könnte. Deswegen habe ich im zweiten Teil des Workshops, nachdem wir über die Bedeutungen von Hozho und den Zusammenhang zu den Themen Scham und Würde gesprochen hatten, alle aus der Gruppe, die eine eigene Erfahrung machen wollten, in den Garten des Tagungsortes zu einer Zeremonie mit hypnotischer Trance eingeladen.

Denn die Navajo haben wie alle indigenen Völker schamanische Zeremonien, um Hozho zu erlangen, sie betreiben damit etwas, was wir auch als Würde-Arbeit verstehen können. Und ich bin überzeugt davon, dass wir derartige überlieferte Zeremonien auch in unseren westlichen hypnosystemischen Kontext zurückübersetzen können. Sie können uns helfen, überflüssige Scham loszuwerden, uns wieder würde-voll zu fühlen und damit auf unsere physische und psychische Gesundheit einzuwirken. Wie gut, dass wir dabei wir nicht allein bleiben müssen, sondern wir das in einer zeremoniellen Gemeinschaft gemeinsam erleben können.

Als Thema der Zeremonie wählte ich die Anerkennung, das Grundbedürfnis, das nach Stephan Marks durch das Schamthema Missachtung verletzt wird. Für mich steht es in enger Verbindung mit der Hozho-Bedeutung Schönheit, denn Anerkennung entsteht, wenn ich – zum Beispiel in dieser Workshop-Gruppe – in meiner Schönheit gesehen, respektiert und geachtet, aber nicht bewertet und interpretiert werde.

Es war schön zu erleben, wie die Teilnehmenden sich auf die völlig andere Welt, mit der ich sie in der Zeremonie in Berührung gebracht habe, einlassen konnten. Ich habe einmal mehr gespürt, dass solche Zeremonien uns dabei helfen können, in Gemeinschaft in unsere eigene Integrität, wie in einen Schutzraum zu treten.

Für mich sind solche Veranstaltungen eine Form von Herzens-Arbeit: Ich öffne mein Herz für die Menschen, die da sind, lade damit alle ein, ihr eigenes Herz zu öffnen, weil das die Voraussetzung dafür ist, die eigene Verletzlichkeit wahrzunehmen und auch anderen Menschen gegenüber auszudrücken. Um dann zu erleben, dass wir hier gewürdigt werden in den ganz unterschiedlichen Arten unseres So-Seins – und dann daran zu wachsen, hin zu einem würde-vollen, scham-losen Leben in körperlicher, geistiger und seelischer Gesundheit.