Irgendetwas funktioniert mit mir nicht
Im letzten Monat habe ich hier darüber geschrieben, dass sich die meisten von uns mit dem Kranksein schwertun, weil sie dann nicht so wie sonst funktionieren. Und ich bin im Nachhinein, bei den letzten Korrekturen für mein in Kürze erscheinendes Buch „Schildkröte sucht Schneekristall“, auf die dort enthaltene Geschichte der Begegnung mit einem Klienten gestoßen, der vor ein paar Jahren meinen Rat gesucht hatte.
Bei weitem nicht alle Menschen, die so wie er zu mir in die Praxis kommen und meine Unterstützung suchen, sehen sich selbst als Problemfall oder gar als Mensch mit negativen Persönlichkeitseigenschaften. Ihre Stärken und Schwächen unterscheiden sich ebenso wie ihre Ziele und Träume.
Stefan, der Klient, an den ich mich nun wieder erinnert habe, war ein erfolgreicher Jurist, genoss in seiner Position hohes Ansehen und stand mit beiden Beinen fest im Leben. Er war zielstrebig und ausdauernd seinen Weg gegangen. Bevor ich ihn kennenlernte, hatte er bereits eine Reihe von Ärzten aufgesucht, um herauszufinden, was mit ihm „los“ war und sich verschiedenen Behandlungen unterzogen. Leider vergeblich.
Fehlermeldung
Dennoch war Stefan wegen eines Problems zu mir gekommen. Ihn plagte bereits seit vier Jahren ein Schwindel und niemand hatte bisher die wahre Ursache dafür finden können.
Er hatte eine hohe Erwartungshaltung an sich selbst und fragte sich, warum seine bisherigen Maßnahmen nicht griffen. Die Tatsache, dass sein Körper nicht so richtig funktionierte, sah er als Mangel, und er bezeichnete seine Symptome als „Fehlermeldung“.
Seine größte Angst bestand darin, schwach zu sein und die erforderlichen Leistungen nicht zu schaffen beziehungsweise ängstlich in die Zukunft zu schauen. Er wollte deshalb nicht, dass seine Umgebung von seinen Beschwerden erfuhr. Auch die Gespräche mit mir waren ihm unangenehm und er fand es peinlich, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er befürchtete außerdem, dass ihm die Symptome sein berufliches Fortkommen erschwerten.
Das Schwindel-Symptom war für ihn etwas ganz Ungewisses, etwas, was er überhaupt nicht einschätzen konnte. Darüber hinaus belastete ihn die Angst, vielleicht schwer krank zu sein, ohne dass die Ursache entdeckt würde. Er erzählt von wiederkehrenden Träumen, in denen er an verschiedenen chronischen Krankheiten litt.
Verdorbene Laune
Der Schwindel und die Schlafstörungen sowie Müdigkeit und das Gefühl, nicht mehr zu können, hatten ihn in einer beruflich angespannten Phase seines Lebens vor vier Jahren zum ersten Mal „heimgesucht“. Sein Hausarzt hatte ihm geraten, weniger zu arbeiten, da er sonst möglicherweise in ein Burnout rutschen würde. Nach einem Stellenwechsel und weniger Arbeit war es aber immer noch nicht besser.
Der Arzt hatte ihm auch empfohlen, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber er hatte seine Beschwerden stattdessen mit gesunder Ernährung und Sport selbst „behandelt“, wie er das nannte.
Als in einer Untersuchung in einem Schlaflabor aufgefallen war, dass seine Nase auf der rechten Seite verengt war, was das Atmen vor allem im Falle einer Erkältung erschwerte, war er prompt zum Arzt gegangen und hatte sich die Nasenscheidewand begradigen lassen. Die OP war erfolgreich, aber sie hatte seinen Schlaf nicht verbessert. Auch der Allergietest war negativ ausgefallen, und seine leichte Schilddrüsenunterfunktion war mit Jod behandelt worden und seither intakt.
Am schlimmsten aber waren für ihn der Schwindel und die wackeligen Beine. Die kamen in der Regel aus heiterem Himmel, wenn er frei hatte und nicht, wenn viel Druck bei der Arbeit war. Er klagte: Ich verstehe das nicht. Ich arbeite so wenig wie nie. Es verdirbt mir die Laune. Wenn der Schwindel kam, machte er einfach alles weiter, was er gerade tat, egal wie es ihm ging.
Eine private Belastung gab es nicht. Allerdings verbrachte Stefan viel Zeit damit, seinem zurückgezogen lebenden Vater zu helfen, der in einer anderen Stadt lebte. Er pendelte an den Wochenenden immer hin und her und erledigte für ihn die Dinge, die wichtig waren.
Er hatte sich schon einmal überlegt, seltener dahin zu fahren, zumal seine Freundin sich vor kurzem über zu wenig gemeinsame Zeit beschwert hatte. Doch er war der einzige Mensch, der sich um seinen Vater kümmern konnte, und dem waren die Besuche wichtig.
Es hat funktioniert!
Stefan und ich arbeiteten in zehn Hypnose-Sitzungen miteinander. Nach drei Sitzungen kam Stefan zu der Erkenntnis, dass seine körperlichen Beschwerden in direktem Zusammenhang zu seiner Motivation standen. Er stellte fest, dass langweilige und unangenehme Alltagssituationen in hohem Maße prädestiniert für solche Anwandlungen waren. Nach weiteren vier Hypnosesitzungen war der Schwindel verschwunden.
Danach fragten wir in einer Sitzung seinen inneren Ratgeber, wie es geklappt hatte, dass es ihm nun besser ging. In dieser Hypnose sah er seine Bank im Garten, fühlte sich ruhig. Die gefühlte Antwort lautete: Hör auf dich und deinen Körper. Und auf die Nachfrage, was er jetzt anders machen konnte als bisher, kam die Antwort: Entspann dich!
In zwei weiteren Hypnose-Stunden erkannte Stefan seine Angst vor dem „schwach sein“ und lernte, wie er in seine Gelassenheit finden konnte. Er verbrachte inzwischen seine Wochenenden alternierend mit seiner Freundin und seinem Vater. Die psychosomatischen Beschwerden waren nach seiner Schilderung weitestgehend verschwunden. Falls einmal ein kleines Unwohlsein-Gefühl auftauchte, konnte er inzwischen besser einordnen, dass er etwas für sich tun musste. Dabei unterstützte ihn auch die Selbsthypnose, die er regelmäßig praktizierte und schätzte.
Stefan konnte nicht rational einordnen, woran es lag, dass es ihm nun besser ging. Er sagte jetzt über sich, dass er ruhiger sitzen konnte, ohne dass ihn seine Gedanken belasteten. Und dass er besser schlafen konnte.
Im Nachgespräch erzählte Stefan, dass er die Hypnosen interessant gefunden und dass er eindeutige Antworten bekommen hatte. Er hatte gemerkt, dass in den „Fehlermeldungen“ wichtige Botschaften des Unbewussten steckten.
Sein Fazit am Ende: Es hat funktioniert. Der Schwindel ist weg.
Alles soll klappen
Ja, es hatte funktioniert. Die Fehlermeldung war verschwunden, und das System lief wieder. Dass er sein Schwindel-Symptom als Fehlermeldung gesehen hatte, zeigte seinen Glauben, derzeit nicht ausreichend zu funktionieren, und seine Entscheidungen für die Begradigung der Nasenscheidewand und für das Jod für die Schilddrüsenunterfunktion wiesen in die Richtung, das zu reparieren.
Er war überzeugt von einer optimalen Lebensfunktion, fast so wie bei einer Maschine, die bei optimaler Nutzung nach Gebrauchsanleitung funktionierte. Seine Wahrheit bestand darin, dass man die Dinge richtig machen müsse, damit das Leben richtig laufe. Deshalb waren „To-do-Listen“ und „Controlling“ für ihn zentrale Elemente in seiner Lebensführung.
So wie für Stefan geht es für jeden von uns manchmal darum, sich etwas Bestimmtes vorzunehmen, ein oder auch mehrere Ziele beruflich und privat zu verfolgen. Und dann brauchen wir eigentlich nur noch die richtige Strategie für die Zielerreichung, und schon ist alles paletti. Ob es dabei um die ganz großen oder die kleinen Ziele im Leben geht, macht dabei keinen wirklichen Unterschied: Immer ist es ein tolles Gefühl, wenn alles klappt!
Meine eigene Erfahrung in den kleinen Dingen des Lebens lautet: An einem Tag mit der richtigen Strategie für die „To-dos“ kann es (sogar bei vielen Punkten auf der Liste) viel reibungsloser laufen als an einem gemütlichen Tag mit zeitlichen Spielräumen ohne Plan. Planvolle, verlässliche Funktion ist gut.
Die dahinter liegende Lebenshaltung ist: Damit der Tag gut läuft, soll idealerweise alles reibungslos klappen! Wie der Tag klappen soll? Davon habe ich genauso meine ganz eigenen Vorstellungen, wie Stefan sie hatte. Sie sind situationsbedingt und durchaus variabel, dennoch ähneln sie ihnen darin, dass sie im Ergebnis funktionieren sollen. Vor allem in kniffligen Situationen hat es mir schon oft ein Gefühl der Sicherheit gegeben, mich mittels ausgeklügelter Planung und detaillierter Vorbereitung auszukennen.
Anders fühlt sich falsch an
Wie geht es Ihnen mit dem Funktionieren in Ihrem Alltag? Gut möglich, dass für Sie das Leben in einer Welt von Funktionen etwas so Normales ist, dass Sie es eigentlich nicht einmal mehr erwähnen müssten.
Die Funktion hat im täglichen Ablauf in gewisser Weise die eigentliche Sinnfunktion übernommen. Ich tue etwas, und es soll funktionieren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Immer ausgerichtet, zielstrebig und fokussiert zu sein, ist ja auch etwas Gutes. Dabei sollten wir allerdings die als richtig erkannten Ziele im Blick haben.
Doch in unserer westlichen Welt haben wir für unsere Zielorientierung und -optimierung etwas das Maß verloren. Wenn wir immer so auf das Funktionieren erpicht sind, kann das schnell zum Selbstzweck werden und dadurch ein zwanghafter Selbstoptimierungszwang entstehen, in dem sich das Funktionieren immer noch weiter ausdehnt auf immer neue Ziele und immer mehr Lebensbereiche. Dabei merken wir gar nicht, dass wir der Zukunft und einem bestimmten Bild, das wir von uns und unserem Leben haben, immer nur hinterher rennen.
Der Perfektionismus hat Einzug gehalten in unserem Leben. Wenn ein Plan einmal nicht aufgeht, ist das gefühlt ein Fehler, und bei einer Wiederholung womöglich sogar ein Scheitern. Wenn die Vorstellung, wie es richtig sein soll, eine andere ist als das, was sich ereignet, fühlt es sich falsch an.
So wie bei Stefan mit seinem Schwindel. Nie wäre er auf die Idee gekommen, den Schwindel als Anregung oder Bereicherung in seinem Leben willkommen zu heißen. Schließlich ist der Schwindel ein Krankheitssymptom und fühlt sich außerdem – gelinde gesagt – sehr unangenehm an. Und das Symptom „Schwindel“ hatte Stefan davon abgehalten, sein Leben so zu führen, wie er es wollte und für richtig hielt.
Persönliche Balance
Wenn wir uns einmal all die Anforderungen an uns wie in einer szenischen Aufstellung um uns herum aufgereiht vorstellen – das, was man tut oder nicht tut; die Akten auf dem Schreibtisch; unsere Vorgesetzten; unsere Partner, Kinder, Eltern, Freunde; unsere eigenen Erwartungen an uns – und all das redet auf uns ein und wir drehen uns ständig um die eigene Achse, um alle wahrzunehmen und allen gerecht zu werden – dann hat das wahrhaftig etwas zutiefst Schwindelerregendes.
Insofern können wir den Schwindel weit über Stefans konkretes Symptom hinaus auch metaphorisch als ein Leiden an der Welt bei vielen Menschen in unserer heutigen Zeit verstehen, die ihr Leben zunehmend als schwindelerregend empfinden.
Wir alle können für uns herausfinden, wie wir aus dem Schwindel heraus unser Gleichgewicht wiederfinden können. Wo es für uns eine gute, ganz persönliche, nicht von anderen definiertes Balance geben kann: zwischen dem, was wir an Zielen verfolgen möchten und für deren Erreichung wir funktionieren wollen, und auf der anderen Seite aber auch einem Freiraum für das Spontane, für das, in dem keine bestimmte Absicht steckt.
Eine Fehlermeldung wie bei Stefan muss nicht der Impuls sein, unsere Funktionsfähigkeit sofort wieder herzustellen, sondern kann uns dazu auffordern, unser Leben erst wieder in diese persönliche Balance zu bringen und uns von dem zu lösen, was wir unbewusst als Norm von außen zu einer inneren Voreinstellung übernommen haben.
Was Stefan nicht gesehen hat und woran ich in den Gesprächen mit ihm oft denken musste: dass er keine Maschine war, die man so einfach ständig optimieren kann, sondern ein Mensch mit Gefühlen, mit Motiven, mit Werten und allem was da sonst so dazu gehört. So wie Stefan vergessen wir alle nur zu leicht, wie reich unser menschliches Leben außerhalb aller Funktionen, in unserer ganz persönlichen Balance sein kann!