August 2024
Jedes Schloss hat seinen Schlüssel
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem Kellerraum. Es gibt eine Tür, aber sie ist versperrt, schon mehrfach haben Sie vergeblich an der Klinke gerüttelt. Die Tür hat ein Schloss, aber Sie wissen nicht, wo der Schlüssel ist. Ihnen wird klar: Sie sind eingeschlossen! So schnell wie möglich wollen Sie hier wieder herauskommen und suchen nun fieberhaft nach dem Schlüssel ...
Das klingt wie ein Albtraum, oder? Aber für viele ist das auch ein reizvolles Spiel. Die sogenannten Escape-Spiele, Anfang der 2000er-Jahre in Japan entstanden, erfreuen sich als Computer-, Brett- oder Kartenspiele oder auch als Live-Events riesiger Beliebtheit, bestimmt haben Sie auch schon davon gehört oder eines dieser Spiele selbst ausprobiert.
Handlungsrahmen dieser Spiele ist meist ein Raum, der mindestens eine verschlossene Türe besitzt und einige Gegenstände sowie versteckte Lösungshinweise bereithält. Das Ziel des Spiels besteht darin, den Ort, an dem man gefangen ist, zu verlassen. Und das Wichtigste ist: Es gibt immer einen Weg aus diesem Raum heraus – Sie müssen ihn nur finden!
Ich möchte Sie heute mit diesem Text ermutigen, sich ebenso auf die Suche nach dem Schlüssel zu begeben, wenn Sie das Gefühl haben, in einer problematischen Lebenslage eingeschlossen zu sein. Mit der Gewissheit, mit der sich alle Teilnehmenden an Escape-Spielen auf diese Suche begeben: Jedes Schloss hat einen Schlüssel – und es lohnt sich, ihn zu suchen.
Wir tragen die Ressourcen in uns
Die Schlüssel, nach denen es sich für Sie zu suchen lohnt, das sind die Ressourcen, von denen ich Ihnen seit dem vergangenen Herbst in diesem Blog immer mal wieder erzählt habe. Das Gute daran ist: Wir müssen sie gar nicht erst erwerben, sondern wir tragen sie schon in uns und wir können auf sie zurückgreifen, wenn uns Probleme belasten.
Wir haben in diesem Zusammenhang über die Ressourcen Kraft, Lebensfreude, Hoffnung, Leichtigkeit, Ruhe, Gelassenheit und Vertrauen gesprochen, und ebenso über die Balance der Ressourcen Loslassen und Durchhalten, Mut und Verletzlichkeit sowie Mut und Bequemlichkeit. Ich habe dabei auch meine Überzeugung mit Ihnen geteilt, dass wir alle im Umgang mit unseren Krankheiten, Problemen und Mängeln die dazu passenden Ressourcen finden und für uns nutzen können.
Das hört sich zunächst einfach an, aber viele Menschen tun sich dennoch schwer damit, für die jeweilige Problemlage die geeignete Ressource zu finden. Denn nicht alle Ressourcen, die ich in den letzten Monaten vorgestellt habe, passen auf jede Situation, auf jedes Leiden, auf jeden Mangel, sondern nur bestimmte. Es gibt sogar Ressourcen, die in einer bestimmten Situation kontraproduktiv sein können.
Insofern finde ich, dass es heute, nachdem wir schon mehrfach darüber gesprochen haben, über wie viele tolle Ressourcen wir verfügen können, Sinn macht, einmal genauer auf die Anwendung zu schauen. Denn wir wollen uns ja auch in Situationen, die besonders anstrengend und stressig sind, daran erinnern, dass es diesen Ressourcenfundus für uns gibt und wir ein Gefühl dafür besitzen, welche Ressource uns nun weiterhelfen kann.
Die komplementäre Ressource
In diesem Zusammenhang kommt das Schlüssel-/Schloss-Prinzip zum Tragen, über das ich gern in meinem Hypnose-Stressbewältigungstraining spreche, weil ich dieses Bild so schön anschaulich finde. Denn in der modernen Hypnotherapie geht man immer davon aus, dass eine adäquate Ressource etwas konkret Erfahrbares darstellt – und das dabei ein komplementäres Erleben zu einem Problem und insofern der richtige Schlüssel zu einem „Problemschloss“ sein kann.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sind vollkommen ausgepowert, haben in einem Projekt sehr viel gearbeitet und Ihre Kräfte dabei voll verausgabt. Eines Tages ist das Projekt fertig, und dann wachen Sie am nächsten Morgen niedergeschlagen auf und wissen überhaupt nichts mit sich anzufangen, weil es ja die letzte Zeit immer nur um Leistung ging und alles verplant war. Ich bin sicher, dass Sie auch solche Situationen kennen.
Was machen Sie nun mit diesem Tag? Gleich wieder ein neues Projekt zu beginnen, darauf haben Sie keine Lust und dafür sind Sie auch viel zu erschöpft. Sie wissen nichts mit sich anzufangen. Irgendwie sollen die Niedergeschlagenheit und die Erschöpfung weg, zugleich ist es ja auch ganz logisch, dass die da sind, so viel, wie Sie sich verausgabt haben.
Was könnte jetzt Ihre komplementäre Ressource zur Niedergeschlagenheit und Erschöpfung sein? Klar ist, dass Sie eine Art von Auftanken brauchen, aber wie soll das genau aussehen? Nach so viel Anstrengung müsste es etwas sein, was sich ohne Anstrengung ereignet, also etwas, was einfach zu Ihnen kommt wie ein Geschenk, das sie dann nur noch annehmen müssen. Und es soll natürlich passen zu dem, was Sie jetzt gerade brauchen.
Was das ist, können Sie leicht herausfinden. Tut es Ihnen jetzt gut, einen Ihrer gewohnten Waldläufe zu machen, so richtig auf Tempo? Oder ist es besser für Sie, bei einem geruhsamen Waldspaziergang für sich eine Bewegung zu finden, die es Ihnen ermöglicht, Ihre Lebendigkeit zu fühlen? Sie gehen möglicherweise einfach durch den Wald und öffnen Ihre Kanäle für das, was um Sie herum erlebbar ist, hören also das bunte Vogelgezwitscher, schauen einem Eichhörnchen zu, wie es über die Äste eines Baumes flitzt, oder schnuppern den Duft von Kräutern auf dem Waldboden, die Sie noch nie gesehen haben.
Am Anfang machen Sie das vielleicht mit schweren Gliedern, Sie sind noch immer niedergeschlagen und fragen sich: „Was mache ich jetzt hier überhaupt in diesem Wald?“ Doch dann kommen Sie an einem Bach vorbei und spüren Lust, zu testen, wie kalt das fröhlich plätschernde Wasser ist, erst mit den Fingerspitzen und den Händen, dann sogar mit den Füßen. Und auf einmal sind Sie dabei, sich all das, was Ihnen jetzt guttut, ohne Anstrengung zu holen, ganz natürlich, über Ihre eigenen inneren Impulse.
Vielleicht verlassen Sie nun aber auch den Wald und kommen auf dem Rückweg nach Hause an einem Bäcker vorbei. Durch die geöffnete Tür strömt der Duft von Kaffee und frischen Croissants, und auf einmal bekommen Sie Lust auf beides. Sie gehen also in die Bäckerei hinein ... Die komplementäre Ressource in dieser Situation wäre also, einen unmittelbaren Zugang zu finden zu dem, was Sie sich frei und lebendig fühlen lässt, mühelos und ohne Anstrengung.
Auch wenn ich Ihnen bei Niedergeschlagenheit eine moderate Bewegung immer empfehle: Möglicherweise gehen Sie nach dem Aufwachen erst einmal gar nicht in Richtung Wald, sondern „nur“ auf Ihren Balkon, lassen sich von den Sonnenstrahlen wärmen, die auf Sie scheinen, und lauschen auf die Vögel, die sich stellvertretend für Sie bewegen, während Sie ihnen bei ihren Morgenaktivitäten zuschauen.
Es kommt also auf Ihre Erschöpfungsrate an, und auf jeden Fall hat es immer irgendwas damit zu tun, dass sich der Nebel in Ihnen lichtet, dass die Sonne scheint, dass sich etwas ereignet, was Ihnen das Gefühl gibt: „Ach, das tut mir jetzt gut!“ Der Ressourcenschlüssel in diesem Fall heißt: Lebendigkeit fühlen mit weniger oder auch ganz ohne Anstrengung.
Weg vom „das muss weg!“
Oft finden wir die komplementäre Ressource als Schlüssel ganz intuitiv, wenn wir uns in einer inneren Balance befinden. Bei Stress, Problemen und Anstrengungen schalten wir dann mehr oder weniger automatisch um in die Erholung und die für uns passende Ressource. Wenn wir einen anstrengenden Tag hatten, sind wir irgendwann müde, wollen uns ausruhen, und wenn wir an so einem Tag schwierige Situationen hinter uns gebracht haben, ist da das Bedürfnis, erst einmal den Kopf frei gepustet zu bekommen.
Doch wir befinden uns nicht immer in dieser Balance, etwa wenn eine Stresssituation länger andauert oder wir in einem Problem feststecken, das wir nicht sofort lösen können. In so einem Fall müssen wir uns bewusst machen, dass es tatsächlich eine komplementäre Ressource als Schlüssel für unser schwieriges Problemschloss gibt, und nun herausfinden, welche es in dieser Situation für uns ist. Was brauchen wir jetzt, was könnte uns helfen, selbst wieder das Gefühl zu haben, lebendig und frei zu sein?
Da kann es funktionieren, sich an ähnliche Situationen in der Vergangenheit zu erinnern und damit eine Verbindung aufzubauen zu einer Situation, in der wir dieses Gefühl schon einmal hatten. Was hat damals geholfen? Haben wir da einen Waldlauf gemacht oder einen Waldspaziergang, haben wir Kaffee und Croissants gefrühstückt oder uns in aller Ruhe auf den Balkon in die Sonne gesetzt, haben wir vielleicht Musik gehört oder ein Buch gelesen, haben wir uns mit Freunden getroffen oder hat uns das Alleinsein gut getan?
So strategisch an eine Problemsituation heranzugehen, ist vielleicht am Anfang ein wenig ungewohnt. Denn unsere Gewohnheit, wenn wir mit einem Problem, mit etwas Unangenehmen konfrontiert sind, ist, als erstes zu denken: „Das muss weg!“ Wenn der Kopf weh tut, sollen die Kopfschmerzen weg, wenn eine Schlafstörung da ist, soll die Schlafstörung weg, wenn wir Angst haben, soll die Angst weg, wenn wir traurig sind ... und so weiter und so weiter ...
Übung im komplementären Denken
Das Schlüssel-/Schloss-Prinzip ist von der Denkweise her anders, weil nicht nur etwas Unangenehmes weg sein soll, sondern weil es darum geht, dass wir uns auf die Suche machen nach einer komplementären Erfahrung. Einer Erfahrung, die so geartet ist, dass sie das, was man als Problem hat, ausschließt. Wenn Sie zum Beispiel traurig sind, und Ihnen fällt etwas ein, was Sie zum Lachen bringt, sind Sie auf einmal nicht mehr (ganz so) traurig – eine komplementäre Erfahrung!
Darauf kommen Sie aber erst einmal vielleicht gar nicht unbedingt, weil Sie eben einfach nur nicht mehr traurig sein wollen und sich wünschen, dass die Schwere aufhört. Möglicherweise merken Sie aber auch, dass Sie, etwa, wenn ein Ihnen nahestehender Mensch gestorben ist, im Moment gar nicht lachen und fröhlich sein wollen, sondern sich der Trauer stellen, sie bewusst fühlen und erst nach und nach verarbeiten wollen.
Oder wenn Sie eine Angstempfindung einfach nur loswerden wollen, zum Beispiel durch die Vermeidung der herausfordernden Situation oder durch irgendeine Ablenkung, kann das zwar erst einmal funktionieren, es kann aber auch dazu führen, dass Sie eine schwierige Situation zwar umgehen, sich aber dadurch einer wichtigen Erfahrung, an der Sie wachsen könnten, berauben.
Sie können es üben, in solchen Situationen komplementär zu denken: Wenn Sie sich nicht nur fragen, was weg soll, sondern auch, was denn jetzt eigentlich eine Erfahrung wäre, nach der Sie sich sehnen, oder was das Gegenteil von dem wäre, was Sie gerade erleben.
Natürlich erfordert das eine gewisse Selbstreflexion und es kann auch sein, dass Sie dabei an Ihre Grenzen stoßen. Doch wenn Sie das Gefühl haben, unsicher zu sein, und wenn Sie überhaupt keine Ahnung haben, welche Ressource den passenden Schlüssel für Ihr Schloss darstellt, können Sie einfach als erstes einmal mit etwas anfangen, was Ihnen sonst oft guttut.
Gelassenheit etwa oder das Empfinden einer ruhigen inneren Kraft können nie schaden. Wenn aber jemand beispielsweise von seinem eigenen Perfektionismus getrieben und in ihm sogar phasenweise verstrickt und darin gefangen ist, kann es dadurch zwar schon ein kleines bisschen besser werden. Aber vermutlich ist das noch nicht der ganz genau passende Schlüssel für sein Schloss. Das wäre eher die Erfahrung, dass, sogar, wenn dieser Mensch einmal „nur“ gute oder befriedigende Leistungen erbringt, immer noch fröhlich sein und ein gutes Leben haben kann, dass er dann immer noch gemocht werden kann. Dass er nicht perfekt sein muss! Diese Art von Erfahrung bekommt er nicht über die Entspannung im Ausgleich zum Geleisteten, sondern darüber, dass er es (bewusst oder auch unbewusst) riskiert, einen Fehler zu machen, und nicht alles bis ins Letzte perfektioniert abliefert.
Der passende Schlüssel
Derartige Feinheiten kann jeder von uns nach und nach herausfinden, sobald das Bewusstsein für das Schlüssel-/Schloss-Prinzip erst einmal geweckt ist und das Üben wie beim Escape-Spiel sogar Spaß macht. Solange wir aber gar nicht wissen, dass es zu unserem Problemschloss einen Schlüssel gibt, suchen wir auch nicht nach diesem Schlüssel. In der Idee des Schlüssel-/Schloss-Prinzips steckt die Grundannahme, dass es den passenden Schlüssel gibt. Dass jedes Schloss einen Schlüssel hat – weil Schlösser sonst sinnlos wären.
Und wenn Sie sich allein damit schwertun, den passenden Schlüssel für Ihr Schloss zu finden, können Sie sich ja auch jederzeit zum Beispiel eine Freundin oder einen Freund mit dazu nehmen und dann einfach gemeinsam überlegen, was Ihnen jetzt helfen könnte. Auch das ist übrigens eine wichtige Ressource: Wenn wir für uns selbst erkennen, dass wir Hilfe brauchen, und die dann auch suchen und annehmen. Darüber werde ich Ihnen im nächsten Monat noch etwas mehr erzählen.
Ob allein oder begleitet: Sie werden den Schlüssel nicht immer sofort finden. Aber ich wünsche Ihnen, dass Sie das Bewusstsein entwickeln können: Mit den ganzen Ressourcen, über die wir gesprochen haben, die wir alle mehr oder weniger schon zur Verfügung haben und weiter ausbauen können, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch Sie für Ihr Problemschloss – wenn Sie in sich hineinhorchen, Ihren Impulsen folgen und dabei noch ein wenig ausprobieren – den für Sie passenden Ressourcenschlüssel finden.