September 2023
Kirschkernsahnetorte - vom Hineinversetzen ins Alter
Im vergangenen Monat habe ich hier über das Glück der Vertiefung geschrieben, am Beispiel eines Jazzworkshops der Münchner Volkshochschule, an dem ich teilgenommen hatte. Ich hatte meine Erfahrung mit Ihnen geteilt, wie spannend und bereichernd es für uns sein kann, wenn wir uns mehr in das vertiefen, mit dem wir uns bisher eher an der Oberfläche oder in einer gewohnten, eingefahrenen Weise beschäftigt haben.
Nun habe ich einige Wochen später in einem weiteren Angebot der Münchener Volkshochschule eine neue Erfahrung machen können, deren Wirkung weit über die Entdeckerfreude an vertiefender Beschäftigung hinaus ging. Durch die emotionale Vertiefung in diesem Seminar nämlich hat sich mein Blick auf das Altsein in Würde, allgemein und in Bezug auf mich persönlich, und nicht zuletzt auch auf meine betagte Mutter verändert. Lassen Sie uns also das Thema Vertiefung aus diesem Anlass auch in diesem Monat noch etwas vertiefen.
Kirschkernsahne
Ich war also Teilnehmerin an einem einwöchigen Kabarettworkshop, der wie der Jazzworkshop im Juni im Haus Buchenried stattfand, einem Seminarzentrum der Münchner Volkshochschule, das im von München ca. 30 Kilometer entfernten Örtchen Leonie wunderschön am Starnberger See liegt.
Das Motto unserer Woche lautete „Café Zeitenwende“, und damit war ein thematischer Überbau gebildet, der eine Einladung war, in vielfältiger Weise mit Texten, Musik und Körperpräsenz humorvoll kreativ zu sein: in Monologen, Dialogen, kleinen Café-Szenen zwischen Kellner und Gast oder zwischen den Gästen und in Musikstücken. Kleine Momente waren ebenso erwünscht wie große (politische) und/oder schwarzhumorige (Weltverbesserungs-)reden, und zwischendurch konnte man auch einen Limerick oder einen Witz zum Besten geben.
Ich singe ja immer sehr gerne, und so hatte ich mir für unser „Café Zeitenwende“ das Lied „In einer kleinen Konditorei“ ausgesucht, um das herum ich zunächst eigentlich nur eine Anekdote über eine wartende alte Dame erzählen wollte. Sie kennen das kleine Tango-Lied bestimmt, es wurde Ende der 20er-Jahre von Fred Raymond komponiert, der Text stammte von Ernst Neubach, eine sehr bekannte Interpretation war von Vico Torriani aus dem Jahr 1956, und in unserer Zeit hat Max Raabe das Lied erfolgreich interpretiert. Ich ahnte in dem Moment noch nicht, dass sich aus dem harmlosen Rollenspiel die Erfahrung einer psychologischen und sogar physischen Identifikation mit der alten Dame entwickeln sollte, die mich tief berührte.
Die kleine Geschichte ging so: Ich spielte eine alte Dame, die beim Gehen auf einen Stock angewiesen ist. Sie ist vom Kellner François an ihren Stammplatz in der kleinen Konditorei geführt worden und wartet nun dort auf ihren Mann Bernard. Bernard, so erzählt sie François, der sich heute verspätet, der aber, wie sie klagt, sich „immer verspätet“, der schon seit 40 Jahren zu spät kommt und auch schon bei ihrem allerersten Rendezvous nicht pünktlich gewesen ist. Bis nach und nach klar wird, dass sie in Wahrheit schon seit Jahren täglich auf ihn hier im Café vergeblich wartet.
Wie jeden Tag bestellt sie dennoch einen Tee für sich und einen Café au lait für Bernard, und als der Kellner sie fragt, ob sie auch Kuchen möchte – „Pfirsichtarte oder Kirschkernsahne?“ –, da kann man als Zuschauer schon an der aufgeregt abwehrenden Reaktion der alten Dame auf das Wort „Kirschkernsahne“ („nein, alles, nur das nicht, bloß keine Kirschkernsahne, keine Kerne!!!“) ahnen, dass mit diesem Kuchen etwas nicht stimmt und er für die alte Dame mit einer schlechten Erfahrung verbunden ist.
Die alte Dame bestellt noch einen frischen Café au lait für Bernard, und dann sagt sie zum Publikum gewandt mit verträumtem Blick: „Bernard trinkt seinen Kaffee immer nur heiß, und er liebt Kirschkernsahne ... damals ... Mein Bernard ist die große Liebe meines Lebens!“ Und dann singt sie das Lied von der „kleinen Konditorei“ als Reise in eine Vergangenheit, in der sie noch zu zweit waren:
In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei
Bei Kuchen und Tee.
Du sprachst kein Wort, kein einziges Wort und wusstest sofort
Dass ich dich versteh.
Und das elektrische Klavier, das klimpert leise
Eine Weise von Liebesleid und Weh.
Und in der kleinen Konditorei, da saßen wir zwei
Bei Kuchen und Tee.
Und plötzlich ist, schwärmerisch begrüßt von der alten Dame, im Hintergrund eine Erscheinung von Bernard zu sehen, der in einer selbstgedichteten Strophe erzählt, warum er seit Langem nicht mehr kommt und was das mit der Kirschkernsahne zu tun hat.
Mein sehnend‘ Herz schlug damals glühend nur für dich,
Heut schlägt es gar nicht mehr, das tut mir leid für mich.
Dann blieb der Schwarzwald- Kirschkern stecken in der falschen Kehl‘.
Das war dann der Schluss – es verpuffte die Seel‘.
Mein sehnend‘ Herz schlug damals glühend nur für dich,
Nun ist es still und ganz einsam um dich.
Der Kirschkern würgte fatal, er raffte mich hin –
Und du weißt nicht mehr, wo ich nun bin.
Dann verschwindet er wieder, und man versteht als Zuschauer: die alte Dame kommt seit vielen Jahren jeden Tag allein hierher und bestellt Tee, Kaffee und Kuchen, um sich an ihn zu erinnern, der Kellner François ist eingeweiht und spielt dieses Spiel immer mit. Sie singt noch einmal ganz wehmütig und leise den Refrain, und die kleine Szene ist zu Ende.
Von innen statt von außen
Ich hatte mir die Anekdote um das Lied herum ausgedacht, weil ich nicht einfach nur das Lied singen wollte – und die „Kirschkernsahne“ ist übrigens auch eine Erfindung von mir, Sie werden dazu kein Rezept finden, denn es gibt keines, und es wäre wegen der Gefahr, an einem der Kirschkerne zu ersticken, auch nicht zu empfehlen ...
Neben der Freude am Gesang und an der gespielten Szene war aber für mich zu meiner Überraschung die sich nach und nach entwickelnde Erfahrung sehr eindrücklich, mich auf diese Weise mit dem Altsein zu beschäftigen und im Laufe des Spielens etwas zu versuchen, was mir zunächst überhaupt nicht leicht gefallen ist: mich immer mehr in die Befindlichkeit der alten Dame hineinzuversetzen.
Am Anfang war ich, wie ich nach und nach gemerkt habe, noch zu sehr ich, da war ich so voller Feuer und Lebenspower und brachte die alte Dame nicht überzeugend rüber, weil ich sie selbst noch nicht richtig erfühlen konnte. Unser Regisseur machte mich dann darauf aufmerksam und meinte: „Alte Damen sprechen nicht so vital, du hast einfach zu viel Energie in deiner Stimme.“
Daraufhin habe ich mich erst widerwillig und dann mit zunehmendem Vergnügen in meine Mutter hineinversetzt und mir vergegenwärtigt, wie sie ist, wie sie mit ihrem Stock läuft, wie sie spricht, ihre mir immer etwas umständlich erscheinende Art.
Das interessante dabei war: Je mehr ich mich in meine Mutter hineinvertiefte, desto mehr bekam ich ein neues Bild von ihrem Leben und davon, wie sie sich dabei wohl fühlen musste. Sonst hatte ich sie immer von außen betrachtet und vor allem registriert, wie sie körperlich abbaut, dass sie zum Beispiel so schleppend, kleinschrittig und dabei immer leicht gebückt geht, was in mir regelmäßig den Impuls auslöste, ihr zu raten, größere Schritte zu machen und sich aufrechter zu halten.
Als ich dann aber in der Szene auf meinen Stock gestützt an der Seite von François ins Café trottete und mich immer mehr in diese Art der Bewegung vertiefte, ging es mir dabei viel besser, als ich gedacht hatte. Vorher hatte ich manchmal etwas Angst davor gehabt, dass ich einmal so schlecht zu Fuß werden würde wie sie, und auf einmal dachte ich, mit netten Menschen um mich herum und in der richtigen Umgebung könnte das netter als erwartet sein. Es verlor viel von seinem Schrecken.
So versuchte ich noch mehr, mich mit der alten Dame zu identifizieren, sowohl psychisch als auch körperlich, letzteres nicht im Sinne einer Karikatur, des Klischees, wie wir von außen meinen, dass eine alte Frau spricht oder sich bewegt, sondern ich begann ihre Stimme und die Bewegung mehr von innen zu erspüren.
Vermutlich kann jeder Schauspieler solche Erfahrungen bestätigen, es gibt sogar eine schauspielerische Methode, das „Method Acting“, entwickelt vom amerikanischen Schauspieler Lee Strasberg, mit dem Ziel der völligen Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle. Strasberg war es wichtig, dass Schauspieler ihre zu verkörpernde Figur aus eigener Sicht kennenlernen und voll und ganz in ihr aufgehen. Bekannte Schauspieler wie Marlon Brando, Robert de Niro oder Daniel Day Lewis haben diese Methode zur Perfektion entwickelt.
Ich aber bin ja keine Schauspielerin, und so hat mich auch weniger das Ziel der überzeugenden Darstellung der alten Dame nach außen getriggert als die Erfahrung, dass sich durch das Einfühlen ins Innere meine negative Bewertung gegenüber dem Altsein veränderte. Hatte ich vorher das Altsein meiner Mutter ausschließlich als Verlust von Lebensqualität interpretiert, bekam ich nun ein viel positiveres Bild. Meine eigenen Vorstellungen begannen sich durch die Empathie der alten Dame gegenüber zu verändern.
Und so trat beim Proben auch in der Darstellung dieser Figur meine ursprüngliche Vorstellung, sie sei dement und alle spielen ihr verwirrtes „Spiel“ mit, immer mehr zurück gegenüber dem Gefühl, dass sie sich in ihrer Art, ihren Verlust von Bernard in ihr Leben zu integrieren, ganz stimmig und angemessen verhielt. Je weiter ich in die Rolle hineinging, desto mehr fühlte ich, dass ihr tägliches Café-Ritual ihre Art war, ihre Trauer zu verarbeiten und „mit Bernard an ihrer Seite" weiterzuleben.
Altern als Entwicklungsaufgabe
Auch unser Regisseur verstand das und so nahmen wir in stillem Einverständnis immer mehr die Pathologie der demenziellen Erkrankung aus dieser Nummer heraus. Sie hatte vorher vor allem etwas Distanzierendes in die Szene hineingebracht. Mich erinnert diese anfängliche Pathologisierung der Dame an die Art, wie distanziert wir manchmal in unserer Gesellschaft mit Kranken umgehen, um uns selbst unbewusst vor zu viel Berührung zu schützen.
Diese Distanzierung von den Kranken und Alten hat vielleicht etwas mit unserer Idealisierung von Produktivität, Leistung und Fortschritt zu tun. Denn die Bereitschaft und Fähigkeit dazu nimmt bei Krankheit oder mit zunehmendem Alter ab, weil man eben nicht mehr so viel Kraft dafür hat. Doch das ist zu einseitig gedacht.
Weil wir als Gesellschaft einen einseitigen Fokus darauf haben, „forever young“ zu sein, jugendlich bleiben zu wollen bis ins hohe Alter, sind wir nicht so neugierig auf die Alten, auf ihre Erkenntnisse, Erfahrungen und Geschichten. So ist beim Älterwerden unser gesellschaftlicher Blick weniger auf die Geschenke des Alters, wie Gelassenheit durch mehr Lebenserfahrung oder gar Altersweisheit gerichtet, sondern wir schauen mehr auf die Defizite, also den Verfall dessen, was nicht mehr so gut funktioniert.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich will hier keineswegs die Beschwernisse des Alters leugnen oder schönreden. Zu altern kann ganz mühselig und beschwerlich, aber es kann auch eine Bereicherung sein, wenn wir es schaffen, in die neuen Entwicklungsaufgaben hineinzuwachsen.
Als ich mich darauf eingelassen habe, in das Befinden meiner Mutter „hineinzukrabbeln“ und es mehr aus ihrer Sicht, also von innen zu betrachten, habe ich gemerkt, dass sie genauso ihre Augenblicke des Glücks und der Zufriedenheit wie auch ihre Angst- und Krisenmomente hat – wie früher in ihrem Leben auch schon, nur heute eben auf einem anderen Level ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit.
Wenn man wie meine Mutter eine ausreichende Adaptionsfähigkeit an die neue Lebensphase entwickelt, stehen die Chancen gut dafür, dass es so kommt. Weil sie jetzt kleinere Schritte macht als früher, beginnt sie im Garten etwa die Sonnenblumen anders wahrzunehmen, ihnen Namen zu geben (die zwei Ganoven), sie im Detail zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichem Lichteinfall zu betrachten und in den Farbspielen der Blüten aufzugehen.
Als ich neulich mit ihr gemeinsam durch den Garten gegangen bin und mich an ihr Tempo und ihre Sicht angepasst habe, tat sich auch mir – mit ihr gemeinsam – eine andere Welt auf. Nicht nur im Sinne von: „Das andere kann ich nicht mehr, dann bleibt mir halt jetzt das“. Sondern ich verstand: Sie hat wirklich etwas Spannendes und Neues für sich entdeckt, weil sie ihre Situation akzeptiert und die Einschränkungen in ihrem jetzigen Leben angenommen hat.
Der Gestalttherapeut Erving Polster (mittlerweile selbst 101 Jahre alt), hat mal bei einer Konferenz in San Diego zu einer Kollegin, die Angst vor dem Altwerden hatte und wissen wollte, wie sie die loswird, gesagt, er hätte dagegen auch kein Patentrezept. Doch was er ihr sagen könne, sei, dass man ja nicht altere im Sinne von: Ich will noch 20 Kilometer laufen, aber ich kann es jetzt nicht mehr. Sondern er habe die Erfahrung gemacht, dass sich seine Bedürfnisse mit dem Nachlassen seiner Kraft ebenfalls verändert hätten. Er wolle nun auch lieber einen kleinen Spaziergang im Garten machen und sich dort auf eine Bank setzen.
Es ist also gut möglich, dass man im Alter wirklich lieber durch den Garten oder einen Park schlurfen und sich an den Teich setzen möchte, damit zufrieden ist und nicht dauernd ein Verlustempfinden davon hat, was man alles nicht mehr in Angriff nehmen kann.
Jedoch gibt es keinen Automatismus, dass sich das im Alter so einstellen muss, und es ist leichter mit altersbedingten Verlusten zurechtzukommen, wenn man schon vorher im Laufe seines Lebens gelernt hat, sich mit Krisen, Verlusten und Anforderungen des Lebens auseinanderzusetzen. Krisen und Krankheiten können tatsächlich genau wie das Altwerden wichtige Entwicklungsbooster sein, weil sie uns die Chance geben, uns mit Dingen auseinanderzusetzen, die schwierig und anstrengend sind, und daran zu wachsen. Der erste Schritt ist hier immer die Akzeptanz der Situation. Die Gegebenheiten so gut es geht anzunehmen, ohne sich allzu sehr zu grämen, das ist auch eine Aufgabe beim Altwerden.
Dem spontanen Hineinvertiefen in die körperliche Befindlichkeit meiner Mutter in der Szene in der kleinen Konditorei – und natürlich auch ihr persönlich, weil sie einen Umgang mit ihrem Alter gefunden hat, der ihr entspricht – verdanke ich diesen Blick in die Potenziale und Schätze des Altwerdens. Das ist so viel bereichernder als der einseitige Blick von außen mit der bloßen Angst vor den Verlusten. Nicht zuletzt habe ich gelernt: Das, was mich im bisherigen Beobachten meiner Mutter am meisten beunruhigt hatte – das stört sie selbst gar nicht so. Meistens ist sie im Einklang mit sich selbst und ihrer letzten Lebensphase.