Lust auf Spaghetti
Meine Praxis hier in Münster ist im Hinblick auf das Angebot der Psychotherapie nicht nur eine Gemeinschaftspraxis, sondern mit meiner Kollegin Elena Baur bilde ich auch eine sogenannte „Berufsausübungsgemeinschaft“ (BAG).
Und so treffen sich Elena und ich einmal im Monat zum „BAG-Meeting“, bei dem wir uns einerseits über die Arbeit im vergangenen Monat austauschen und darüber, was im nächsten Monat ansteht. Zum anderen haben wir einfach eine gute Zeit miteinander und essen und trinken etwas Leckeres.
Manchmal gehen wir auswärts essen und probieren dabei auch immer mal ein neues Restaurant aus. Oder wir treffen uns bei mir, da ich ja in einer Kombination aus Privat- und Praxisräumen lebe, dann lassen wir oft, wenn wir müde sind, bestelltes Essen kommen, zum Beispiel eine vegetarische Bowl von einem der asiatischen Lieferdienste.
Lieblingsgericht
Hin und wieder aber kochen wir auch eine Kleinigkeit zusammen. Einmal, vor einigen Monaten gab es zum Beispiel eines meiner Lieblingsgerichte, Spaghetti „al dente“ mit in Kalamata-Olivenöl angebratenen Cocktailtomaten, roten Peperoni oder Chilis und natürlich Knoblauch – darüber frisch geraspelten Parmigiano.
Beim Kochen sprach ich mit Elena darüber, dass ich mich mit diesem Gericht sogar bei der Arbeit an meinem Buch, das ich im nächsten Jahr veröffentlichen will, beschäftigt habe. Denn meine „Spaghetti aglio e olio“ sind für mich nicht nur ein schnell zubereitetes Lieblingsgericht, sondern auch ein Beispiel für die erfolgreiche Befriedigung eines meiner biologischen Bedürfnisse. Und damit bieten sie mir zugleich einen guten Anlass, über unseren Umgang mit unseren Bedürfnissen ganz allgemein nachzudenken.
Erstaunlich beim Essen meiner Spaghetti ist für mich jedes Mal nämlich, erzählte ich Elena, wie sich mein Appetit und meine Geschmacksempfindung mit zunehmendem Sattwerden verändern: Während ich am Anfang genüsslich in allen Geschmacks-Facetten schwelge, so entsteht im Laufe des Essens eine kleine Geschmacksabflachung, und irgendwann kommt beim aufmerksam kauenden Schmecken oder spätestens beim Schlucken der Moment, an dem mir die Geschmacksnerven signalisieren: Ich habe genug und bin satt.
Als wir dann mit unseren köstlich duftenden, gefüllten Tellern am Tisch saßen und uns auf unser Essen freuten, verriet ich Elena, wie sehr ich es genieße, mich voll auf mich selbst und meine Körpersignale verlassen zu können.
Und was für mich das Allerbeste an dieser Angelegenheit ist: Um wahrzunehmen, dass ich aufhören sollte zu essen, brauche ich überhaupt keine Expertise über die Kalorienzahl von Spagetti, keine Berechnung der passenden Spagetti-Menge als Teilmenge der täglich aufzunehmenden Kohlenhydrate, die ein Kind/Jugendliche(r)/Erwachsene(r) idealerweise zu sich nehmen sollte, und auch keine Lektion in Ernährungslehre – sondern ausschließlich eine volle Präsenz beim Essen in der bewussten Wahrnehmung meiner Geschmacksempfindungen und meine Bereitschaft, diesen Signalen zu folgen!
Grund- und Wachstumsbedürfnisse
Wir aßen also genüsslich unser Essen, und kamen – und das kann bei uns Psychologinnen sogar nach Feierabend passieren – auf die unterschiedlichen menschlichen Bedürfnisse zu sprechen. Zum einen die biologischen Grundbedürfnissen, bei denen es, so wie bei den Spaghetti, darum geht, einen aufgetretenen Mangelzustand zu befriedigen. Sobald der Mangel ausgeglichen ist, ist das Bedürfnis gestillt. Dazu gehören neben Hunger und Durst die Bedürfnisse nach Sicherheit, Bewegung, Schlaf, Körperkontakt im Sinne von menschlicher Wärme und Nähe, Bindung und Sexualität.
Zum anderen gibt es aber auch noch eine weitere Palette von Bedürfnissen – in der Psychologie nennt man sie Wachstumsbedürfnisse. Sie umfassen zum Beispiel das Bedürfnis nach Lebenssinn, sozialem Engagement, Berufung oder Selbstverwirklichung und stellen sich bei jedem Menschen individuell etwas anders dar.
In unserer westlichen Kultur bewerten wir Sicherheit, Autonomie, Leistungsorientierung und Gewinnstreben positiv. Ein Mittel, unseren Erfolg auf diesen Gebieten darzustellen und uns für unsere Leistungen zu belohnen, ist der Konsum von idealerweise unbegrenzt verfügbaren Angeboten.
Doch die Idee, dass die Fokussierung auf die Kombination von Leistung und Konsum für uns Menschen generell befriedigend und erfüllend ist, stößt mit zunehmender Fülle an ihre Grenzen. Über den Ausgleich des Mangels hinaus hat eine weitere „Versorgung“ keinen zusätzlichen Wert. Niemand profitiert davon, auf Vorrat zu schlafen, niemand wird sich besonders wohl fühlen, wenn sie oder er sich dauerhaft riesige Mengen einverleibt. Es ist im Gegenteil sogar so, dass ein Zuviel die gewünschte Zufriedenheit genauso gefährdet wie ein Zuwenig. Und das gilt eben offenbar nicht nur für die biologischen Bedürfnisse.
Wir selbst – beziehungsweise unser Körper – geben uns permanent darüber Auskunft, wie viel wir wovon brauchen und wann es „genug“ ist. Wenn wir eine Verbindung zu uns selbst haben und gesund sind, wissen wir instinktiv, wann wir ausgeschlafen sind, uns genug bewegt haben, Nähe spüren oder lieber allein sein wollen – oder eben genug „Spaghetti aglio e olio“ hatten …
Unsere Wachstumsbedürfnisse haben leider keine so einfache körperliche Regulierung, keinen so leicht erkennbaren „Sättigungsgrad“. Wir hören schlechter auf die Signale, vielleicht haben wir auch verlernt, sie zu erkennen.
Elena und ich waren uns einig, dass wir auch hier merken, wann sich etwas „richtig“ anfühlt. Wenn wir bewusster wahrzunehmen versuchen, was wir wirklich brauchen, was uns wirklich guttut. Wenn wir – wie ich bei unseren Spaghetti – tatsächlich irgendwann spüren: Ich habe genug.
So ging es nun auch uns beiden – wir waren satt von den Spaghetti, etwas müde vom Tag und hatten auch genug davon, uns an diesem Abend weiter über dieses Thema auszutauschen. So widmeten wir uns dem Folgebedürfnis, nach einem schönen „BAG-Meeting“ die gute Zeit miteinander zugunsten des Schlafbedürfnisses ausklingen zu lassen und uns dann bis zum nächsten Morgen zu verabschieden …