Mai 2024
Mut und Bequemlichkeit
Im März habe ich hier im Blog für Sie über die Partnerschaft von Mut und Verletzlichkeit geschrieben, und in diesem Zusammenhang über die Erwartung vieler Menschen, der Mut müsse irgendwie zu ihnen kommen, nach dem Motto: Damit ich mutig handeln kann, muss ich mich erst mutig fühlen.
Doch das halte ich für ein Missverständnis. Ich bin überzeugt: Ich kann mir den Mut für mich selbst erarbeiten – indem ich mich etwas traue.
Und es gibt zum Thema Mut noch ein weiteres Missverständnis: Wir tun in unserer Gesellschaft häufig so, als müssten wir ständig neue Herausforderungen annehmen und uns darin mutig zeigen, statt in der Komfortzone unseres Lebens zu verharren und die vorhandenen Annehmlichkeiten zu genießen.
Doch auch diese Annahme teile ich nicht. Ich finde es nicht nur legitim, sondern sogar lebensnotwendig, dass wir uns eine Balance aus Mut und Bequemlichkeit erlauben.
Über diese zwei Missverständnisse und über den Mut, manchmal mutig und manchmal nicht mutig zu sein – darum soll es in meinem heutigen Text gehen.
Der nächste Schritt
Einen der für mich schönsten Texte über den Mut hat der Schriftsteller Martin Walser verfasst, er stammt aus seinem Roman „Jenseits der Liebe“ von 1976. Dieser Text hat mich schon lange über verschiedene Lebensphasen begleitet und ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich ihn lese:
„Mut gibt es gar nicht. (...) Man muss nur den nächsten Schritt tun. (...) Aber wer den nächsten Schritt nicht tut, obwohl er sieht, dass er ihn tun könnte, tun müsste, der ist feig. (...) Der nächste Schritt ist nämlich nie ein großes Problem. Man weiß ihn genau.“
Mich hat daran schon immer angesprochen, dass diese Vorstellung von Mut demnach gar keinen Mut als Voraussetzung für mutiges Handeln erfordert – sondern etwas ganz Einfaches und Greifbares: die Bereitschaft zu einem nächsten Schritt. Das bedeutet allerdings zugleich nicht, dass dennoch immer auch ein gewisses Risiko in diesem nächsten Schritt liegt:
„Eine andere Sache ist, dass er gefährlich werden kann. (...) Aber wenn du ihn tust, wirst du dadurch, dass du erlebst, wie du ihn dir zugetraut hast, auch Mut gewinnen. (...) Gerade das Erlebnis, dass du einen Schritt tust, den du dir nicht zugetraut hast, gibt dir ein Gefühl von Stärke.“
Das Mutigste, was wir tun können, besteht in meiner Sicht tatsächlich darin, dass wir uns für eine noch unbekannte Erfahrung öffnen, die wir selbst als riskant empfinden. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun, mit Vertrauen auf das, was Walser so ausdrückt: „Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.“
Der Mut, so verstehe ich das, ist nicht schon einfach so vorher vorhanden, sondern er erwächst aus meiner Erfahrung, mir etwas zugetraut zu haben. Darauf vertraut zu haben, trotz aller Ungewissheiten und Risiken, dass der nächste Schritt mich weiterbringen wird.
Das Maß der Dinge
Redensartlich sprechen wir, wenn wir uns etwas trauen, oft davon, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden. Da geht es zwar oft einfach nur darum, die eigene Bequemlichkeit zu überwinden oder eingefahrene Gewohnheiten loszulassen, aber genau das hat durchaus etwas mit Mut zu tun.
Das bedeutet aber nicht, dass ich die Bequemlichkeit verurteile, und auch nicht, dass wir uns nie ausruhen sollen oder, dass es falsch ist, mal faul zu sein und die Füße hochzulegen. Wenn wir in der komfortablen Bequemlichkeit sind, sind wir halt einfach mal nicht unterwegs, sondern stationär in einer vertrauten Alltagswelt, die uns viele Vorteile bietet: nämlich Sicherheit, Schutz und Vertrautheit.
Diese Alltagswelt ist nicht besser oder schlechter als eine unvertraute Welt. Im Gegenteil: Sie ist für Phasen in unserem Leben sehr sinnvoll, weil sie uns Stabilität und Orientierung gibt, weil wir in ihr ausruhen und regenerieren und Kraft schöpfen können. Es ist wichtig, dass wir dann auch vor uns selbst und anderen zu dem stehen, was wir in dem Moment brauchen und wollen – und dass wir zugleich akzeptieren, dass sich das eben auch verändern kann und wir dann wieder andere Bedürfnisse haben.
Das wertzuschätzen und in manchen Momenten bewusst genießen zu können, ist eine wertvolle Ressource, zu der Menschen, die ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen unterwegs sind, nur schwer Zugang finden, was sie im Extremfall ruhelos und instabil machen kann. Es geht also gar nicht darum, immer Herausforderungen aufzusuchen und darin mutig zu agieren. Ich finde generell, wenn es um Werte geht und um Orientierung im Leben, ist die Balance entscheidend und nicht das Bemühen, irgendetwas für immer zu sein, also etwa immer mutig – und dauernd irgendwelche Risiken eingehend.
Das sehe ich nicht als Lebensziel an sich, und insofern sollten wir auch Bequemlichkeit und Faulheit einen Platz in unserem Leben gestatten. Was spricht dagegen, dass wir einen faulen Schlafanzug-Tag einlegen oder auf der Couch oder einer Wiese oder sonst wo einfach mal nur den lieben Gott einen guten Mann oder eine gute Frau sein lassen?
Nicht gleichzeitig
Nur wenn wir uns zu lange oder gar ausschließlich in der Komfortzone aufhalten, dann entsteht in der Regel irgendwann ein Gefühl von Mangel, das kann zum Beispiel Langeweile sein – oder auch das Gefühl, dass das Leben nicht genug bietet.
Das liegt daran, dass wir in der Bequemlichkeit unserer Komfortzone, so angenehm, sinnvoll und legitim unser Aufenthalt da auch ist, nun einmal alles vermeiden, was irgendwie unbequem ist. Und unbequem ist ja nicht nur die Anstrengung oder das Risiko, sondern überhaupt das Unbekannte an sich. Etwa wenn wir die Abläufe von etwas nicht so genau kennen oder eine fremde Sprache nicht sprechen oder allgemein etwas zum ersten Mal machen.
Wenn wir dem Unbequemen aus dem Weg gehen, ist das, wie gesagt, weder gut noch schlecht, bedeutet aber in der Konsequenz, dass uns das außerhalb der Komfortzone Befindliche unbekannt und fremd bleibt und wir keinen Zugang finden. Denn diese Vermeidung des Unbequemen bedeutet, dass wir bestimmte an sich ebenso sinnvolle wie reizvolle Dinge nicht tun. Zum Beispiel, wenn wir uns schon lange eine weite Reise in ein fremdes Land erträumen, uns aber dazu bisher nie aufgerafft haben, den Traum in die Tat umzusetzen.
Martin Walser drückt das im Kontext seines bereits zitierten Textes so aus: „Es gibt nicht nur die Gefahr, dass du zu viel riskierst, es gibt auch die Gefahr, dass du zu wenig riskierst.“ Das müssen wir immer wieder neu abwägen, denn bequem zu sein hat seine Zeit, und auch mutig zu sein hat seine Zeit. Vor dem nächsten Schritt müssen wir uns allerdings stets entscheiden.
Die von mir in meinem Blogtext zu Mut und Verletzlichkeit schon einmal zitierte US-amerikanische Verfasserin zahlreicher psychologischer Sachbücher, Brené Brown, hat das so auf den Punkt gebracht: „We can choose courage or we can choose comfort, but we can’t have both” – “Wir können Mut oder Bequemlichkeit wählen, aber wir können nicht beides haben“.
Ich möchte ergänzen: Wir können vor allem nicht beides gleichzeitig haben – wir können nicht im selben Augenblick bequem und mutig sein, es uns komfortabel machen und Dinge wagen, die Neuland bedeuten und vielleicht auch ein wenig anstrengend und riskant sind. Das schließt sich aus. Entweder füttern wir den inneren Schweinehund oder wir überwinden ihn, was wir jeweils in der einen oder anderen Situation neu entscheiden können.
Die Heldenreise
Für mich hängt der innere Schweinehund übrigens mit einem anderen, sogar etwas ähnlich klingenden Begriff zusammen, der mit dem Bild der Heldenreise zu tun hat. Dort gibt es einen Schwellenhüter, der in manchen Aspekten dem „inneren Schweinehund“ ähnelt.
Heldenreise? Ich habe Ihnen hier im Blog im Juli 2022 schon einmal von diesem Ansatz erzählt. Er basiert auf der Erkenntnis, dass wir alle hinter der Kulisse des Durchschnittsmenschen verborgen Merkmale von Heldenfiguren in uns tragen, wie sie seit Menschengedenken in allen Kulturen in Mythen, Sagen, Romanen, Dramen und Filmen zu Hause sind.
Wenn es um Veränderungen und neue Erfahrungen geht, ist die Heldenreise ein ausgesprochen gutes Format für die Entdeckung und „Eroberung" eines neuen lohnenswerten Lebensabschnitts, das wir Helden – also wir alle als Hauptfiguren unseres Lebens – führen können, es bis dato aber noch nicht wagen oder nicht für möglich halten.
Denken Sie an einen Menschen, der zum Beispiel musikalisch ist und eine schöne Singstimme hat oder gut zeichnen kann, diese Begabung aber nicht zeigt oder weiterentwickelt, obwohl er es sich wünscht und es möglich wäre. Denn neben seiner Begabung halten ihn Ängste zurück zusammen mit den Gewohnheiten, die diesen Menschen ebenfalls in seinem Setting der Bequemlichkeit halten.
Und doch gibt es parallel den Traum, die Begabung auszubilden und vielleicht vor anderen Menschen zu singen oder einen Comic zu zeichnen. Dieser Wunsch ist die Voraussetzung und der Beginn dafür, sich entwickeln zu wollen. Zunächst verhindert der Schwellenhüter aber die Bewegung in die Veränderung, also in den ersten Schritt.
Die Ausgangssituation einer Heldenreise besteht also in etwas traulich Eingewohntem, bevor der Call, ein innerer oder äußerer Ruf, die Helden aus diesem Status hinauszieht. Dahinter steckt ihr Entwicklungswunsch. Das kann im Beispiel des Singens der Besuch eines berührenden Konzertes sein, der den Wunsch, selbst zu singen, und den Traum von einem eigenen Auftritt wieder verstärkt.
Aber weil es die Angst vor dem Scheitern gibt oder davor, dass die Hoffnungen und Träume sich nicht erfüllen, machen wir uns oft genug nicht sofort auf den Weg.
An der Schwelle
Es gibt in der humanistischen Psychologie wie auch in der positiven Psychologie – denen ich zuneige – die grundlegende Annahme, dass es in uns Menschen generell eine „Selbstaktualisierungstendenz“, eine Art selbst immanente Wachstumstendenz gibt. Das bedeutet: Wir Menschen entwickeln uns natürlicherweise weiter. Und das bedeutet zugleich: Wenn wir uns eine gewisse Zeit in einer Situation befinden, empfinden wir den Ruf nach Entwicklung durch irgendeine Form von Mangel und wollen daraufhin uns und die Situation wieder verändern.
Das trifft dann in uns in Form der Bequemlichkeit auf eine – durchaus sinnvolle – Gegenbewegung: Denn es gibt immer auch sehr viel, was dafürspricht, das System erst einmal so zu erhalten, wie es ist – weil es eben bekannt und vertraut ist und uns die Sicherheit der Stabilität bietet.
Der Schwellenhüter ist die Figur aus der Heldenreise, die dafür steht, dass das System sich nicht zu schnell verändert und dadurch vielleicht seine Stabilität verliert. Denn für die Veränderung braucht es unsere Skills, die wir, wie auch die innere Kraft zur Veränderung, aufbauen und einsetzen müssen, um die neue Welt entdecken zu können. Wir können nicht in der Bequemlichkeit des Sofas oder gemütlich am Strand auf einem Liegestuhl gleichzeitig mutig die alte Welt verlassen und in die neue Welt aufbrechen.
Erst müssen wir eine Entscheidung treffen. Und da kann es ruhig auch mal eine Weile so in uns erst hin- und hergehen zwischen der für die Erhaltung des Systems sinnvollen Bequemlichkeit und dem fürs Wachstum unerlässlichen Mut zum Aufbruch – bevor wir uns dann beherzt auf den Weg machen.
Es gibt eben diese Schwelle, über die wir erst gehen müssen, und dafür müssen wir in eine bestimmte Energie kommen. Wir müssen dafür ganz anwesend sein, weil wir uns ganz mitnehmen müssen, um über diese Schwelle zu kommen. Erst dann kommen wir in einen neuen energetischen Zustand, können mutig den ersten Schritt wagen und uns auf unsere ganz persönliche Heldenreise begeben.
Unsere Bequemlichkeit, unser Zögern, unsere Angst vor dem nächsten Schritt haben also immer eine wichtige Funktion, sie sind unser Schwellenhüter, der darauf achtet, dass wir im nächsten Schritt diese Schwelle mit der notwendigen Energie, mit ausreichendem Vertrauen und mit unserer ganzen Persönlichkeit – also voller Mut – überschreiten können, und dass wir dabei die Kraft entwickeln, die wir brauchen, um auch alle weiteren Schritte überhaupt machen und unseren Weg gehen zu können.
Der Weckruf
Woran, mögen Sie sich jetzt fragen, kann ich denn erkennen, ob jetzt gerade für mich eher Mut oder eher Bequemlichkeit sinnvoll ist? Ein Merkmal ist, wie bereits erwähnt, ein Gefühl von Langeweile. Ein Tag ist wie der andere, ein Gefühl von Lebendigkeit fehlt, irgendwas fehlt, es gibt ein Mangelgefühl. Das ist etwas ganz Persönliches und andere können das von außen schlecht erkennen. Für eine gewisse Zeit war die immer genau gleiche Lebensführung ja auch richtig gut, und nun verändert es sich, manchmal auch schleichend.
Zuweilen ist es vielleicht auch eine Unzufriedenheit mit einer Arbeitssituation, oder in der Beziehung ist etwas verloren gegangen. Das Gefühl, das alledem gemeinsam ist: Irgendwie ist es so, wie es ist, nicht mehr so richtig toll, irgendwas fehlt.
Der Call, der uns auf Basis dieser Konstellation erreichen kann, ist so etwas wie eine Gelegenheit, die sich von irgendwoher auftut, etwas, das uns anzieht.
Das kann das Musikstück auf Spotify sein, wo auf einmal wieder Erinnerungen wach werden, oder etwas, was sich als Traum offenbart, oder ein Gespräch mit einem fremden Menschen, in dem sich überraschend eine Form von Sehnsucht auftut. Das Gemeinsame daran ist, dass die vertraute Welt, die Routine, das Eingefahrene unterbrochen wird.
Oft können auch Krisen diesen Call bedeuten, zum Beispiel in der Familie, Partnerschaft oder auch im Beruf. Ein Bekannter erzählte mir von einer Massenkündigung in der Firma, in der er gearbeitet hatte. Er selbst war nicht betroffen, aber über 100 Kolleginnen und Kollegen, von denen ihm die allermeisten nach einiger Zeit erzählt hatten, das sei der Weckruf gewesen, den sie gebraucht hätten, um so einen viel erfüllenderen Job zu suchen und zu finden.
Das hätten sie natürlich an sich auch schon vorher machen können, aber die Bequemlichkeit des (tatsächlich ja nur scheinbar) gesicherten Jobs stand dem entgegen und hielt sie von dem Schritt in die Veränderung ab und da bleiben, wo sie waren. Dabei hätten sie ja, um mit Martin Walser zu sprechen, „nur den nächsten Schritt tun“ müssen.
Innere Welt als Steuerungsmodul
Eine der Kernaussagen des Konzeptes der Heldenreise ist, dass wir selbst Hauptfiguren in unserem Leben sind. Das hat nichts mit Egoismus oder Egomanie zu tun, aber es heißt, dass wir selbst Einfluss auf unser Leben haben, dass wir schöpferisch tätig sein, dass wir handeln können, dass wir selbstwirksam sind. Dass wir in der Welt Dinge steuern können und dass wir, wenn wir das tun und wenn wir unsere Begabungen und unsere Träume und das, was wir gelernt haben und auch weiter lernen, in die Welt bringen, auch etwas Positives bewirken können.
Diese Grundannahme bezeichnen wir auch als Selbstvertrauen. Wenn es um Veränderung geht, ist es gut, wenn dieses Selbstvertrauen vorhanden ist – neben einem Vertrauen in die Welt, wie es sich in etwa dem bekannten Satz aus dem „Rheinischen Grundgesetz“ ausdrückt: („Et hätt noch emmer joot jejange“ – „Es ist bisher noch immer gut gegangen“).
Zum Selbstvertrauen gehört auch, dass wir uns nicht, wie wir es heute allzu oft gewohnt sind, etwa in unserem medizinischen System, ausschließlich von Experten abhängig machen, die uns sagen, was wir machen müssen, damit es gut wird – also von Impulsen oder gar Anweisungen von außen.
Was wir Menschen heute manchmal nicht mehr mitbekommen, ist, dass wir in unserem eigenen Inneren ja auch intuitive Impulse, Emotionen, Gedanken haben, denen wir trauen können. Wenn wir die innere Welt nicht als Steuerungsmodul wie einen inneren Kompass zur Verfügung haben, weil wir uns damit nicht so gut auskennen, dann werden wir diese natürlich auch nicht einsetzen.
Wer sich aber mit sich selbst besser auskennt, der kann sich ganz anders in der Welt bewegen und sich einerseits trauen, Momente und Phasen der Bequemlichkeit zu genießen und daraus Kraft sowie Vertrauen in sich selbst und die Welt zu schöpfen. Und dann andererseits auch, wenn ihm danach ist, aus seiner Bequemlichkeit heraustreten, den nächsten Schritt über die Schwelle gehen und so voller Mut einen neuen Weg beginnen.