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November 2025

Vom Glück, ganz im Augenblick zu sein

Woran denken Sie, während Sie diesen Blogtext lesen? Die Frage mag im ersten Moment merkwürdig klingen, aber ich meine sie durchaus ernst. Denn vor Kurzem bin ich auf eine Studie aufmerksam geworden, die ich sehr bemerkenswert fand. Nicht, weil sie etwas völlig Neues gesagt hätte – sondern weil sie mir schwarz auf weiß bestätigt hat, was ich seit Jahren in meinem eigenen Alltag beobachte: Wir verbringen fast die Hälfte unserer wachen Zeit damit, über etwas anderes nachzudenken als das, was wir gerade tun.

Die Psychologen Matthew A. Killingsworth und Daniel T. Gilbert von der Harvard University haben das herausgefunden, indem sie mithilfe einer iPhone-Web-App 250 .000 Datenpunkte zu den Gedanken, Gefühlen und Handlungen von 2.250 Probanden im Alltag gesammelt haben.

Insofern ist es gut möglich, dass auch Ihnen, während Sie sich auf die Lektüre dieses Textes zu konzentrieren versuchen, ständig ein anderes Thema durch den Kopf geht – oder auch mehrere. Denn wir Menschen verbringen viel Zeit damit, über Dinge nachzudenken, die nicht gerade um uns herum geschehen: Wir denken über Ereignisse nach, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, in der Zukunft stattfinden könnten oder vielleicht nie eintreten werden.

Die erwähnte Studie ist zwar schon von 2010, aber ich glaube, dass sich die Tendenz zum Abschweifen unserer Gedanken seitdem eher noch verstärkt hat. Und so nehme ich das zum Anlass, Ihnen heute etwas über unsere Fähigkeiten zu Konzentration und Gegenwärtigkeit sowie über Ablenkbarkeit und Multitasking zu schreiben.

 

Kognitive Leistung mit emotionalem Preis

Für mich ist das besonders Spannende an dieser Studie, dass sie wirklich „im Feld“ durchgeführt wurde, international, in vielen verschiedenen Ländern mit Menschen über verschiedene Altersgruppen hinweg; sie ist wirklich repräsentativ.

Die Freiwilligen wurden über die App in zufälligen Abständen kontaktiert, um sie nach ihrem Glücksgefühl, ihrer aktuellen Tätigkeit und danach zu befragen, ob sie über ihre aktuelle Tätigkeit oder über etwas anderes nachdachten, das angenehm, neutral oder unangenehm war. Die Probanden konnten aus 22 allgemeinen Aktivitäten wählen, wie z. B. Spazierengehen, Essen, Einkaufen und Fernsehen.

46,9 Prozent gaben an, an etwas anderes zu denken als das, was sie gerade taten. Die anderen aber, die angaben, präsent zu sein, also nicht an etwas anderes zu denken, waren damit auf weitere Nachfrage offensichtlich zufriedener als die, die abgelenkt waren.

„Ein menschlicher Geist ist ein abschweifender Geist, und ein abschweifender Geist ist ein unglücklicher Geist“, kommentierten die beiden Forscher dieses Ergebnis. „Die Fähigkeit, über Dinge nachzudenken, die nicht gerade passieren, ist eine kognitive Leistung, die ihren emotionalen Preis hat.“

Das hier beobachtete Glück der Präsenz gilt übrigens sogar bei unangenehmen Aufgaben. Wenn ich zum Beispiel den ungeliebten Abwasch mache, und ich mache ihn ganz bewusst und aufmerksam, ist das offensichtlich immer noch angenehmer, als wenn ich dabei über andere Dinge nachdenke – es sei denn, ich hasse es regelrecht, Abwasch zu machen, und steigere mich in dieses Gefühl immer weiter hinein. Aber ansonsten geht es uns generell immer besser, wenn wir präsent sind, wenn wir anwesend sind in dem, was wir tun.

Warum ist das so? Meine These dazu lautet: Wenn wir dort, wo wir sind, nicht vollständig anwesend sind, sondern gleichzeitig noch irgendwo anders, dann sind wir nirgendwo richtig. Doch wir haben alle eine Sehnsucht danach, ganz so zu sein, wie wir sind, und ganz dort zu sein, wo wir sind. Gleichzeitig aber halb da und halb da und noch irgendwo anders zu sein, das geht einfach nicht gut.

Wenn wir nicht wirklich vollständig im Hier und Jetzt sind, können wir diese Momente überhaupt nicht als erlebte Momente in unser Bewusstsein integrieren. Dann ist das Erleben unvollständig. Schamanen in den indigenen Völkern würden sagen, dass dann Seelenteile nicht mehr da sind und zurückgeholt werden müssen.

 

Bin ich dabei zufrieden?

Nun können wir hier durchaus auch etwas differenzieren. Denn es geht mir hier nicht darum, eine Norm aufzustellen und zu sagen, Sie sollten nie wieder Sachen gleichzeitig machen oder beim Tun an etwas anderes denken. Ich finde nur, dass es zu überprüfen wichtig ist, ob sich das parallele Tun wirklich gut anfühlt, ob Sie damit tatsächlich zufrieden sind. Wie gesagt, bei der Harvard-Untersuchung überwog die Unzufriedenheit – trotzdem kann jeder für sich herausfinden, wie es bei ihm selbst ist.

Es gibt etwa die Tagträumerei, die eine andere Art von mentaler Aktivität ist und die nicht unglücklich macht, sondern zumeist eher ein kreativer Prozess ist, in dem Sie Kraft schöpfen können.

Und dass unsere Gedanken immer wieder von einem Thema zum nächsten wandern, ist auch erst einmal völlig normal, solange wir uns trotzdem des Ortes bewusst sind, an dem wir sind, und in der Tätigkeit, in der wir uns gerade engagieren, gegenwärtig bleiben.

Auch ein Spaziergang, an dem wir allein in Gedanken in ein Thema oder mit anderen in ein Gespräch vertieft sind, kann wunderschön sein und uns glücklich machen. Und wenn ein Bekannter mir erzählt, dass er auf seinem Hometrainer gerne über Kopfhörer einen Podcast hört, so kann ich durchaus nachvollziehen, dass das mehr Spaß macht, als nur öde vor sich hin zu strampeln.

Wenn ich aber dann Menschen an der Supermarktkasse begegne, die gleichzeitig ein Gespräch auf ihrem Smartphone führen, oder von anderen höre, die in einer Runde sitzen und parallel über ihr Headset offensichtlich an einer Konferenz teilnehmen, dann sind das für mich nicht nur Rücksichtslosigkeiten gegenüber den anderen Beteiligten, sondern ich bezweifle auch, dass dabei beide Tätigkeiten wirklich mit voller Konzentration durchgeführt werden können.

Denn man kann nicht gleichzeitig die Aufmerksamkeit nach innen und nach außen ins Gespräch lenken. Das ist immer ein Entweder/Oder. Genauso ist es zum Beispiel bei unserer Wahrnehmung von Geräuschen. Wir meinen zwar vielleicht, einen Vogel und ein Flugzeug gleichzeitig zu hören, aber in Wirklichkeit hören wir es kurz nacheinander. Und wenn wir wirklich genauer hören wollen, dann müssen wir uns auf den Vogel oder auf das Flugzeug fokussieren.

Aufmerksamkeit ist wie ein Flaschenhals. Unser Fokus wird immer enger, je mehr wir wahrnehmen wollen. Wie bei einem Fotoapparat: Mit einem Weitwinkel ist zwar ganz vieles, aber das nicht besonders genau zu sehen. Wenn wir uns etwas genauer ansehen wollen, müssen wir näher ran – sehen dann aber das andere nicht mehr.

 

Immer nur das Zweitbeste

Beim Multitasking geht der Kontakt zu den anderen beteiligten Menschen, zum Ort, zur Tätigkeit und zu der Situation verloren, alles wird funktionalisiert. Das basiert auf dem Missverständnis, dass wir dadurch mehr hinbekommen, dass wir effektiver sind und mehr erleben, dass es dadurch irgendwie interessanter und reichhaltiger wird in unserem Leben. Doch das stimmt nicht, sondern wir brauchen unsere Sinnesempfindungen, um überhaupt etwas wahrzunehmen, und der Zugang dazu geht verloren, wenn wir die ganze Zeit über nirgendwo so richtig sind.

Auch beim Spaziergang kann es so sein, dass wir nachher vielleicht gar kein Gefühl der Natur oder dem Spaziergang gegenüber haben, weil wir die ganze Zeit nur nachgedacht oder geredet haben – ganz zu schweigen davon, dass wir – wie es mir auch schon häufiger passiert ist – dabei leicht in die Gefahr kommen, eine wichtige Abzweigung zu übersehen und uns zu verlaufen.

Und meinem Bekannten auf dem Hometrainer entgeht die Erfolgserfahrung, so wie man sie zum Beispiel im Fitnessstudio beim Spinning haben kann, wenn die Musik, die man über den Kopfhörer hört, noch das Fahrradfahren unterstützt, indem etwa der Blutfluss durch die Waden und die Power, die jetzt den Körper durchströmt, besonders intensiv wahrnehmbar sind.

So naheliegend viele der Ablenkungen und Paralleltätigkeiten auf den ersten Blick auch sein mögen, so bin ich doch überzeugt: Eigentlich wird es eher noch viel besser, wenn wir es irgendwie schaffen, uns der Tätigkeit des Augenblicks wirklich zuzuwenden und etwas Besseres herauszuholen als nur Ablenkung. Das Ablenken ist immer nur das Zweitbeste, nicht das Beste.

 

Schnelles und langsames denken

Nun werden Sie vielleicht einwenden, dass Sie Menschen kennen, die tatsächlich sehr effizient verschiedene Dinge nebeneinander tun können. Ja, die kenne ich auch. Mir hat auch jemand erzählt von einer Frau, die gleichzeitig mit beiden Händen und beiden Füßen vier verschiedene Bilder malen kann. Solche Menschen sind Sonderbegabungen. Und bestimmt gibt es auch Manager, die gelernt haben, verschiedene Dinge mit erstaunlichem Erfolg gleichzeitig zu tun, wie etwa die Börsenmakler, von denen man immer auf Fotos sehen kann, wie sie mehrere Telefonate gleichzeitig führen.

Hier aber, so denke ich, haben wir es mit einer Form von Automatisierung zu tun. Wir kennen das vom Autofahren, wo wir gleichzeitig mit Lenkrad, Gas, Bremse, Kupplung und Schaltung beschäftigt sind und dabei noch nach vorne und in den Rückspiegel schauen. Aber das haben wir nicht von Anfang an gekonnt, wir haben es in der Fahrschule und dann durch viel Fahrpraxis erlernt. Ähnliche ist es beim Schlagzeugspiel, beim Klavierspielen etc. Diese Dinge erfordern immer Training.

Der Psychologe Daniel Kahnemann hat in diesem Zusammenhang zwischen einem schnellen und einem langsamen Denken unterschieden. Das langsame Denken ist immer das, zu dem wir Aufmerksamkeit und Bewusstsein brauchen. Das schnelle Denken aber ist ein automatisiertes Denken. Das, was wir automatisiert tun, können wir einfach so nebenher machen. Das ist dann so eine Art Autopilot.

Deswegen kann zum Beispiel ein Klavierspieler das Pedal drücken und gleichzeitig mit rechter und linker Hand Melodie und Begleitung spielen. Im Klavierunterreicht hat er das zunächst nacheinander gelernt, dann erst wurde es zusammengefügt und durch wiederholende Übung trainiert. Doch das ist etwas anderes, als wenn man eine Sache macht und sich dabei gleichzeitig ablenkt und noch an etwas anderes denkt, es sind andere mentale Vorgänge.

Natürlich kann das Gehen beim Spaziergang im Wald auch ein weitgehend automatisierter Vorgang sein. Doch von dem, was wir automatisch machen, bekommen wir kaum etwas bewusst mit, weil unsere Aufmerksamkeit nicht dahin geht. Wir spüren dann zum Beispiel nicht mehr den weichen Waldboden, registrieren nicht, wie er duftet.

Es kann gut sein, dass uns jemand hinterher nach einem besonders großen und alten Baum fragt, an dem wir vorbeigekommen sein müssen – und wir haben ihn aber gar nicht bemerkt. Wie gesagt, so zu laufen ist nicht falsch – doch das volle Walderlebnis haben wir in so einem Fall nicht.

 

Mehr Mittelmaß als Tiefe

Ich bin auch davon überzeugt, dass Telefonate, die wir parallel an der Supermarktkasse führen, oder Mails, die wir schreiben, während wir gleichzeitig Radio hören oder mit jemandem sprechen, weniger in die Tiefe gehen. Das Ergebnis unseres Tuns wird dann flacher, mittelmäßiger. Unsere Gesprächspartner oder die Empfänger unserer Mail merken das möglicherweise sogar. Wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig tun, schaffen wir zwar mehr, aber eben mehr Mittelmaß.

Ich selbst merke das manchmal in meiner Mittagspause, gestern zum Beispiel. Ich aß etwas, las gleichzeitig meinen Entwurf für diesen Blogtext vom Morgen, versuchte ihn zu bearbeiten und unterhielt mich nebenher noch mit unserer Teamassistenz, die zwischendurch mit einer Frage hereingekommen war. Am Ende der Mittagspause war ich weder erholt, noch war der Text wirklich besser geworden, noch wusste ich so genau, wie das Essen geschmeckt hatte. Und ich hatte auch schon wieder vergessen, was ich mit unserer Sekretärin besprochen hatte.

Oft ist es zum Glück nicht so wichtig, wenn ich es vergessen habe, weil es bereits erledigt war. Wenn es aber etwas war, was ich mir hätte merken sollen oder was wichtig war für den nächsten Tag, dann ist es einfach durchgerutscht und kann zu einem Problem führen.

Und was den Text angeht: Ich habe dann gemerkt, dass die Konzentration einfach nicht ausreichend war für die Qualität, die ich mir vorgenommen hatte. Und habe mich dann gestern Abend noch einmal in aller Ruhe und mit voller Konzentration darangesetzt. Wenn ich mich wirklich auf etwas einlassen will, dann brauche ich das einfach.

Und wie ist das bei Ihnen? Haben Sie sich auf die Lektüre dieses Textes konzentrieren können oder waren Sie ständig abgelenkt? Kennen Sie das Gefühl, ganz in einem Moment zu sein und an nichts zu denken? Auch wenn das natürlich nicht immer möglich ist: Ich wünsche Ihnen viele solcher ablenkungsfreien, gegenwärtigen Momente und Erfahrungen!