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Wenn wir aufhören, uns selbst Geschichten zu erzählen ...

Vor einiger Zeit wollten mein Partner Erwin und ich den Nationalpark Teide zu Fuß erkunden. Im Visitor Center empfahl man uns einen gut markierten Weg mit 400 Höhenmetern, für den wir vier Stunden benötigen würden. Wir überlegten uns, entweder ein Teilstück des Aufstiegs zu wandern und dann wieder zurück zu gehen, oder alternativ auch den Weg zum Gipfel und mit der Seilbahn wieder herunter. Die Entscheidung wollten wir unterwegs treffen. Schließlich war es erst ein Uhr mittags und die Sonne lachte vom Himmel ...

So gingen wir einen angenehmen, breiten und geschotterten Weg entlang, der sich in Serpentinen mit gemächlicher Steigung den Berg hochschlängelte. Karg und fremd kam mir die Welt des Teide vor. Wir sahen die vulkanischen Gesteinsformationen in ihren verschiedenen Farben, die dunkle Lava, die helleren Steinkrümel. Da war eine seltsame faszinierende Leere zwischen den Steinen, die mich faszinierte. „Wie ausgestorben“, dachte ich und mein Blick fiel auf den Kadaver eines Käfers, der einzige, den ich in den letzten 1,5 Stunden entdeckt hatte. Kein Vogelgezwitscher und kein Flügelschwingen, nicht mal Reste von toten Insekten auf dem Weg ... 

Dann – es war mittlerweile halb vier – endete der breite Weg plötzlich an einer Kreuzung mit Wegweisern. Hier konnten wir wählen: In 2,8 Kilometern steil bergauf lag die Schutzhütte, nach links ging ein zweiter Weg zurück vom Teide-Gipfel zum Nationalpark. Oder umdrehen und denselben Weg zurückgehen?

 

Automatisierte Gedankenmuster                                                                          

Ist es Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir alle uns ständig selbst Geschichten erzählen und innere Dialoge führen? Vermutlich nicht, denn wir sind mit diesen Geschichten so verbunden, dass wir sie gar nicht wahrnehmen.  Oft braucht es eine Situation außerhalb der Routine oder Alltagswelt, damit die eigenen Gedankengänge als solche erkennbar werden. Allzu verschmolzen sind wir mit unseren vielfältigen Gedankensträngen und nehmen daher gar nicht war, dass wir viel mehr sind als das, was wir über uns und das Leben denken – und dann tatsächlich auch glauben. Und so ist uns gar nicht bewusst, wie viel mehr wir erleben können.  

Auch in meinem Leben kommt es immer mal wieder vor, dass ich mich mit meinen Gedanken unbewusst in automatisierten Gedankenmustern manipuliere, ohne es – währenddessen oder hinterher – überhaupt zu merken. Erstaunlich ist es, wie viel Energie mobilisierbar wird, wenn das alles einmal wegfällt. Manchmal hilft die körperliche Anstrengung dabei – wie ich bei dieser Wanderung im Nationalpark Teide erlebt habe.

Begleiten Sie mich also weiter bei diesem Erlebnis, das eine solche Energiefülle in mir freigesetzt hat.

 

Nicht mehr weit

Wir hatten uns inzwischen den Gipfel als Ziel gesetzt und den ersten Teil der Wanderung genossen, also stiegen wir höher über die Wolken, aufmerksam mit den Augen auf dem Weg, mussten zwischendurch sogar etwas klettern, denn es gab höhere Felsen und rutschiges Geröll.

Trotz zunehmender Höhe wurde es zwischen den Lavasteinen richtig heiß, doch wir stapften unbeirrt und stetig weitere anderthalb Stunden bergauf. Erwin wiederholte an den Biegungen der Serpentinen ein paar Mal, dass wir eigentlich gleich da sein müssten, denn die 2,8 Kilometer wären nicht so weit. Mein Kreislauf signalisierte mir, was ich in den letzten Stunden geleistet hatte. Wir tranken etwas von unserem Wasser. Aber als ich etwas essen wollte, sagte Erwin, der sonst immer etwas für uns mitnimmt: „Ich habe nichts dabei – wir sind doch ´eh gleich da!“

Ich merkte, wie Ärger und Frustration meine Beine schwerer werden ließen, wie die Konzentration dabei zurückging und ich beim Laufen einige Male stolperte. Etwas in mir wollte hier nicht weiter hochgehen. Genervt von mir selbst war ich auch, zumal ich mich auf meinen Partner verlassen und mich nicht selbst um einen Snack gekümmert hatte. Gleichzeitig wollte ich es dennoch unbedingt schaffen, oben anzukommen, und sagte zu mir, fast mantraartig: „Wir können doch jetzt nicht mitten auf dem Weg umdrehen. Es ist ja nicht mehr weit.“ Und da ich mir den Rückweg nicht mehr so richtig zutraute, so angespannt und erschöpft, wie ich mich fühlte, schien der Weg zur Hütte und von da aus zur Seilbahn das kleinere Übel zu sein.

Um meine Kräfte zu bündeln, blieb ich also stehen, atmete für ein paar Atemzüge ganz bewusst tief und gleichmäßig, sammelte schließlich meine ganze Willenskraft und stieg weiter den Berg hoch. Auf diese Weise liefen wir eine weitere Stunde, bis wir am späten Nachmittag tatsächlich an der lang ersehnten Schutzhütte ankamen.

 

Unglaubliche Schönheit

Wir standen hoch über den Wolken, schauten auf die sich gleichmäßig hinziehende Wolkendecke und ein wunderschönes Panorama von Bergen. Ein Traum!

Doch gleichzeitig klickerte bei mir eine Erkenntnis tiefer, die mich erschreckte: Wir waren mittlerweile für die Seilbahn längst zu spät! Wir mussten denselben steilen Weg zu Fuß zurückgehen. Ich war nun vollends überzeugt, dass ich das auf keinen Fall schaffen würde. Meine Beine hatten die ganze Zeit gezittert und bis jetzt nicht damit aufgehört. Ich legte mich versuchsweise rücklings auf den Boden, atmete tief und hoffte inständig auf ein Wunder. In diesen Minuten wurde mir klar: Entweder konnte ich an der Schutzhütte sitzenbleiben – dann würde es irgendwann dunkel, ungemütlich und kalt – oder ich musste wieder den Weg zurück den Berg hinuntergehen. Die Entscheidung lag bei mir – und auf der Hand. 

Also machten wir uns gemeinsam an den Abstieg. Ich ging nochmal voll in die Leistung, und mein Körper zeigte mir meine Grenzen, aber es war dennoch völlig anders, als ich es mir oben an der Hütte ausgemalt hatte: Befürchtet hatte ich, dass ich mit meinen zitternden Beinen die Steine nicht treffen, rutschen, vielleicht sogar umknicken würde, dass meine Muskeln versagen könnten ... Dass es also im Ganzen noch viel schlimmer würde als der schon äußerst herausfordernde Aufstieg.

Was hätte ich mir da innerlich negative Geschichten in allen möglichen Varianten erzählen können: eine darüber, dass ich mich verletzte oder den Weg nicht schaffen würde, eine über meinen „schrecklichen“ Partner, der es versäumt hatte, etwas zu essen einzupacken und an meinem Energiemangel schuld war, oder – in einer Variation – was passieren würde, wenn ich den ganzen Tag nichts aß und mein Blutzucker absackte. Da gab es Tonnen von Geschichten, mit denen ich mich davon hätte abhalten können, da, wo ich war, komplett anwesend zu sein.

Doch nichts von all dem ereignete sich. Stattdessen sah ich, was für eine unglaubliche Schönheit sich auftat, sobald ich mit den negativen Geschichten aufgehört hatte, weil meine nachgelassene Kraft es nicht mehr zuließ und es keine Alternative zum Laufen gab. Dadurch hatte ich diesen mentalen Zustand entwickeln können, der meinen Geist über Stunden so leicht werden ließ.

Wir liefen beim Abstieg für einige weitere Stunden durch die fremdartige, kalte Nebellandschaft. Als wir schließlich unten ankamen, war die Sonne längst untergegangen. Körperlich fix und fertig packte ich mich im Auto dick ein, drehte die Heizung voll auf und machte mich bereit, auf der Stelle einzuschlafen.

 

Lebendige Erfahrung statt innere Vorstellung

Was war geschehen? Auf dem Weg hatte ich es auf wundersame Weise geschafft, mich von allen Stimmungen, Gedanken und Überzeugungen zu befreien. Ich hatte auf einmal eine ganz klare Sicht auf mich selbst und die Welt. Nichts war mehr übriggeblieben von meinen ängstlich-genervten, mich einengenden Gedankengebäuden. Stattdessen gab es nur diese eine Erfahrung: Ich hebe die Füße, setze sie wieder ab, laufe und schaue auf den Weg, und mein Geist ist dabei leicht und ruhig. Ich bleibe stehen, schaue nach rechts und links, nehme die Umgebung und den Blick über die Wolken ins Tal war. Dann gehe ich weiter, hebe meine Füße, setze sie wieder ab, laufe...

Das war meine intensive Erfahrung von purem Anwesendsein und das schroffe Herzensgeschenk des Teide an mich.

Diese Wanderung hat mich etwas gelehrt, was ich eigentlich schon wusste, aber ich habe es hier noch einmal so kraftvoll wie niemals vorher gespürt: dass meine mit allen Sinnen erlebte fokussierte Gegenwart etwas anderes ist als die Welt meiner inneren Vorstellungen. Auch wenn ich sonst manchmal glaube, anwesend zu sein und meine Umwelt wahrzunehmen, bin ich es doch sehr häufig nicht komplett. Da gibt es Welten, ja ganze Universen zu entdecken, die jenseits meiner bisherigen Überzeugungen auf mich warten: völlig neue innere Möglichkeiten in der Wahrnehmung, im Denken, Fühlen und im Handeln – auf allen Ebenen des Seins! Eine Dimension von Ressourcen, von denen ich überhaupt niemals gedacht hätte, dass ich sie besitzen würde!!!

Es war diese immense Anstrengung, die es mir auf dieser Wanderung ermöglicht hat, aus meinen automatisierten Gedankenmustern herauszukommen. Es ist nicht der einzige mögliche Weg, sich von den Mustern zu lösen, aber es ist ein sehr wirkungsvoller. Durch diese Anstrengung war ich so erschöpft, dass ich die Kapazität für die Gedankenmuster nicht mehr hatte. Ich konzentrierte mich nur noch auf was, was ich gerade machte, war vollständig in der Gegenwart.   

Als ich runterging, sah ich dadurch diesen Weg in seiner Schönheit ganz anders als bergauf, ich sah, dass die Felsbrocken von der Sonne beschienen beigebraun leuchteten, ich sah einen kleinen Käfer, der vorüber krabbelte, und da war auf einmal ein Stein, den ich vorher nicht wahrgenommen hatte – ich war plötzlich mit dieser Landschaft anders verbunden. Das war eine pure Begegnung zwischen mir und der Natur, gedankenfrei und geschichtenlos.

Habe ich Ihnen Lust gemacht auf solche Begegnungen? Wahrscheinlich haben Sie auch schon Ähnliches erlebt, vielleicht war es Ihnen in dem Moment bewusst, vielleicht auch nicht. Ich erzähle es auch gar nicht, weil ich es für so eine außerordentliche Geschichte halte. Sondern ich möchte meine Reflektion darüber mit Ihnen teilen, was da mit mir passiert ist, ohne dass es mir bewusst war.

Solche Erlebnisse helfen uns zu verstehen, was für ein großartiges Potenzial da für uns alle bereit steht: Wenn wir mit den automatisierten, uns selbst erzählten Geschichten aufhören und für einen Augenblick innehalten, wenn wir da sind, wo wir wirklich sind, dann wird ein ganz neuer Raum erkennbar …