Dezember 2024
Wie ich über Glauben schrieb – und dann Glauben erfahren konnte
Vor ein paar Wochen hatte ich mir vorgenommen, in diesem Monat für Sie über das Thema Glaube zu schreiben. Ich fand das für den Dezember sehr passend, denn jetzt sind wir wieder alle mehr oder minder in Aktivitäten verwickelt, die ihren Ursprung in Weihnachten, also einem religiösen Fest haben.
Dabei war mir durchaus bewusst, dass das keineswegs bedeutet, dass alle, die mitfeiern, auch noch an den Gott des Christentums oder einen anderen Gott glauben. Ebenso war mir klar, dass überhaupt das Wort Glaube – unabhängig von der religiösen Bedeutung – an Akzeptanz verloren hat und wir in unserer westlichen, von Rationalität und Funktionalität geprägten Welt Wissen für wichtiger halten als Glauben. Dass es uns immer schwerer fällt, überhaupt noch an irgendetwas zu glauben.
Trotzdem – oder gerade deswegen – wollte ich über den Glauben schreiben. Nicht über den an den Weihnachtsmann, das Christkind oder irgendeinen anderen religiösen Glauben, sondern ich wollte Ihnen in meinem Text die ganz einfache Frage stellen: Glauben Sie überhaupt an etwas? Und wenn ja, an was?
Mich interessierte das, weil ich fest davon überzeugt bin, dass es uns Menschen gut tut, wenn wir an etwas glauben können, wenn wir Grundüberzeugungen besitzen, die uns tragen.
Ich ging an das Thema eher sachlich, funktional und aus nüchterner Distanz heran, so, wie es sich die meisten von uns in dieser Gesellschaft angewöhnt haben, über alle möglichen Themen objektiv zu denken und zu schreiben.
Und dann kamen plötzlich das Leben und der Tod dazwischen: Meine Mutter kam am 14. November ins Krankenhaus, und ich war an ihrer Seite, bis sie nach nur 14 Tagen am Morgen des 28. November starb. In diesen Tagen wurde aus meinem Nachdenken über den Glauben auf einmal eine unmittelbare Glaubenserfahrung – und der Text wurde anders, als ich ihn ursprünglich geplant hatte.
Funktional wichtig
Doch der Reihe nach. Bevor meine Mutter im Krankenhaus ihre Diagnose bekam, hatte ich schon meinen (ersten) Entwurf für diesen Text geschrieben. Meiner ursprünglichen sachlichen Herangehensweise entsprechend wollte ich mit einem sehr profanen Aufhänger beginnen: Bei einer notwendigen Reparatur in meiner Praxis hatte ich zunächst Bekannte und dann Handwerker konsultiert und erst im Nachhinein gemerkt, dass ich das handwerkliche Problem von Anfang an selbst hätte aus der Welt schaffen können, weil sich das Werkzeug dazu in meiner Werkzeugkiste befand. Doch ein in der Tiefe wirkender Glaubenssatz hatte verhindert, dass ich das vorhandene Werkzeug wahrnahm, und ich hatte mir eingeredet, dass ich zur Reparatur nicht fähig sei.
Ich wollte darüber schreiben, dass die meisten von uns solche Glaubenssätze in sich tragen, und dass die Tatsache, ob wir an etwas glauben oder eben nicht glauben, viele Konsequenzen hat, weil Glaubenssätze äußerst wirkmächtig sind. Dass Glaube tatsächlich, wie es in einem bekannten Sprichwort heißt, Berge versetzen, und unser Leben, je nachdem, was wir glauben, ganz unterschiedlich verlaufen kann.
Ich wollte Ihnen erzählen, wie Glücksforschung und positive Psychologie uns zeigen, dass die Menschen weniger krank sind, gesünder leben, schönere Beziehungen haben, optimistischer durchs Leben gehen und auch ihre Ziele eher erreichen, die die Grundüberzeugung „Ich bin okay, du bist okay, die Welt ist okay“ in sich tragen.
Und dass das mit Erfahrungen zu tun haben kann, die sie im Laufe ihres Erwachsenenlebens machen, aber nicht zuletzt auch damit, welche Grundüberzeugungen sie in ihrer Kindheit entwickelt haben. Denn wenn ein Kind geliebt zur Welt kommt, wenn es gewünscht ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit erst einmal einen entsprechenden Platz einnehmen und den Glauben entwickeln: Die Welt und ich, das ist in Ordnung!
In meinen Überlegungen zum Thema Glaube spielte es, als ich diesen ersten Textentwurf schrieb, keine entscheidende Rolle, ob er irgendwie religiös oder transzendent ist. Ich brachte es auf eine abstraktere Formel: Wie wichtig es sei, dass wir an etwas glauben können, das größer ist als wir selbst.
Das können Werte und Grundüberzeugungen sein, an denen wir uns aufrichten können, die unser Rückgrat stärken, die uns die Möglichkeit geben, daran zu wachsen und unsere eigene Größe erst richtig zu entdecken und in der Welt zur Geltung zu bringen. Und natürlich können es auch andere Menschen sein, die wir als größer empfinden als wir selbst, im Sinne dessen, dass sie uns Vorbilder sind, dass wir sie bewundern, dass sie uns inspirieren, uns gute Impulse geben, dass wir uns in ihrer Gegenwart gestärkt fühlen.
Im Vordergrund stand für mich, dass jeder Glaube uns Menschen guttun, uns stärken und glücklicher machen, dass er für uns funktional wichtig sein kann. Dass unsere mentale und körperliche Gesundheit davon abhängt, was wir glauben, und dass auch in der Hypnose eines der wichtigen Grundgesetze lautet: Glaube ist stärker als Wille. Wenn sich beide diametral gegenüberstehen, siegt immer und ausnahmslos der Glaube. Und dass wir schon allein deswegen alle ein Interesse daran haben sollten, zu überprüfen, woran wir eigentlich glauben.
Hab Vertrauen!
Als ich die erste Fassung dieses Textes mit solchen Gedanken verfasst hatte, las ich ihn mir wie üblich in Ruhe durch. Meine Empfindung war zwiespältig: Einerseits war alles, was ich da aufgeschrieben hatte, wichtig, zutreffend und auch zweifellos wert, es Ihnen ans Herz zu legen. Aber zugleich hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass der Text nicht tief genug ging, dass er dem Thema Glaube noch nicht ausreichend gerecht wurde. Doch ich konnte nicht genau fassen, was da noch fehlte.
In diesem Stadium erreichte mich die Nachricht, dass es meiner Mutter nicht gut ging und sie als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Noch an diesem Abend erhielt sie die Diagnose eines bösartigen Tumors, der bereits weit fortgeschritten war. Als Anthroposophin war sie tief verwurzelt in ihrem Vertrauen in die geistige Welt, und ihr war bewusst, dass sie bald sterben würde. Sie traf am nächsten Tag ihre Entscheidung zu gehen und war felsenfest davon überzeugt, dass sie als nächstes in die geistige Welt übergehen und dort auch meinen vor einigen Jahren verstorbenen Vater treffen würde. Dass sie keine Angst zu haben brauchte, weil das einfach der nächste Schritt in ihrer Entwicklung sein würde. Ihr zu sich selbst gesprochenes Mantra war „Hab Vertrauen!“, und sie hatte dieses Vertrauen.
Im ersten Moment war mir die Sicherheit, mit der sie all das glaubte und auch darüber sprach, nicht ganz geheuer, mir kam es fast etwas zu naiv vor. Aber es berührte mich zugleich tief. Sie hatte eine Art Aura um sich herum, sodass sie für manche Momente richtig glücklich strahlte.
Ihre Klarheit in dieser Phase, in der sie noch nicht von Schmerzen und Morphinen gezeichnet war, und ihre fast schon transzendente Ausstrahlung übertrugen sich auf mich und auch auf die Menschen, die sie besuchten. Einer der befreundeten Nachbarn war davon so berührt, dass er ihr spontan von einer Nahtoderfahrung, die er selbst vor Jahren gemacht hatte, erzählte, verbunden mit der Botschaft, dass sie im Übergang von dieser in die andere Welt etwas erwarte, auf das sie sich freuen könne.
Ich saß bei ihren Schilderungen dieses Besuchs neben ihrem Bett, weinte und hielt ihre Hand, und sie sagte ganz ruhig zu mir: „Du musst nicht traurig sein. Denn da, wo ich hingehe, ist es schön.“ Dann hielt sie einen Moment inne und fuhr dann fort: „Ich verstehe schon, dass du traurig bist. Weine ruhig, das muss alles raus, das gehört jetzt auch dazu.“ Ich fand es unglaublich, dass sie es war, die mich tröstete, denn ich hatte im Kopf diesen Film, dass eigentlich ja ich die Starke sein und sie trösten müsste.
Aber für sie gab es da nichts zu trösten, und je mehr ich mich für die Realität öffnete, in der sie sich innerlich so selbstverständlich bewegte, desto stärker konnte ich sie auf ihrem Weg wahrnehmen. Nicht in diesen leuchtenden Farben wie beim Nachbarn in seiner spektakulären Nahtoderfahrung, aber ich spürte, dass meine Mutter in ihrem Glauben mit dem Mantra „Hab Vertrauen!“ jetzt auf einem neuen, sehr schönen Weg war, den sie entschlossen weiterging. Nur einmal fragte sie mich ängstlich, ob sie sich nicht verlaufen könnte, dann war auch das vorbei. Sie wusste einfach, dass es für sie richtig war – das war der felsenfeste Glaube, eine unerschütterliche Kraft, die wir als Essenz alle in uns tragen.
Und da passierte etwas mit mir: Ich fühlte diese starke Kraft, ich fühlte ihren tiefen Glauben, das Vertrauensmantra hatte auch für mich einen neuen Raum geöffnet.
Auf einmal war da nicht mehr nur so eine theoretische Sicht auf den Glauben wie in dem Text, den ich zu schreiben begonnen hatte. Mir war vorher nicht klar gewesen, wie distanziert diese Zeilen, bei allen klugen Gedanken, geblieben waren. Ich hatte den Glauben in seinen Elementen, die ihn definierten, von außen beschrieben, und nun wurde mir auf einmal bewusst, dass ich interessiert auf ihn geschaut hatte, wie man im Zoo ein seltenes Tier hinter Käfiggittern betrachtet.
Nun hatte das alles für mich eine völlig neue Qualität bekommen, denn der Glaube meiner Mutter war für mich erfahrbar. Sie teilte ihn in diesen Tagen auf dem Weg zum Sterben mit mir und gab mir damit ein Vorbild für eine Glaubenserfahrung. Das war ein völlig anderer Zugang zum Thema Glaube, als ich ihn bisher in Betracht gezogen hatte.
Glauben erfahren
Ich selbst war bisher eher eine Zweiflerin als eine Glaubende, und Religion und Transzendenz haben vor allem in meinen frühen Lebensjahren eine untergeordnete Rolle gespielt. Aus zwei Gründen: Zum einen waren meine Eltern beide in strenger katholischer Erziehung in zum Teil schwierigen Bedingungen aufgewachsen und hatten sich dann verständlicherweise von ihrer religiösen Prägung befreit – zur Anthroposophie war meine Mutter erst viel später in einer Lebenskrise gekommen, als ich schon längst erwachsen war.
Zum anderen war ich als Tochter eines Naturwissenschaftlers durch meine eigene Prägung viele Jahre meines Lebens überzeugt: Wissenschaft ist objektiv und daher besser als Glaube. Sie war für mich immer in dieser Zeit das Edlere, das Modernere, das, was uns Menschen mehr Möglichkeiten für Entwicklung bietet.
Doch davon bin ich immer mehr abgekommen. Aber nicht, weil ich Wissenschaft nicht mehr für wichtig halten würde, sondern weil ich erkannt und erfahren habe, dass wir Menschen aus unserem Vertrauen und der Zuversicht Kraft schöpfen und uns daher von unserem Glauben viel mehr leiten lassen als von faktischem Wissen. Dazu kommt, dass unsere mentale wie auch körperliche Gesundheit davon abhängt, was und woran wir (nicht) glauben.
Das alles war mir bereits seit Längerem klar, dennoch war das Thema Glaube für mich etwas ambivalent geblieben. Vielleicht deshalb, weil ich noch immer fürchtete, in eine Abhängigkeit von einem Lehrenden zu geraten, wie ich es als Jugendliche schmerzlich kennengelernt hatte.
Ich würde mich aber nicht als Atheistin bezeichnen, zumal ich mich neben den christlichen Glaubensinhalten mit schamanisch-spirituellen Riten, mit Buddhismus, Meditation und Yoga beschäftigt habe. Ich habe liturgische Nächte veranstaltet, habe Taizé besucht, den inspirierenden Treffpunkt verschiedener Konfessionen und Nationalitäten – weil ich gemerkt habe, dass mir all das gut tut. Und ich habe für mich eine regelmäßige Meditationspraxis etabliert – einen täglichen Ruhepol von 30 Minuten, den ich schätze, für den ich dankbar bin und der mir viel Gelassenheit schenkt, gerade wenn die Zeiten innerlich und äußerlich stürmisch sind.
Aber zu solch einem unerschütterlichen Glauben wie dem, mit dem sich meine Mutter von mir und der Welt in den letzten Wochen verabschiedet hat, hatte ich bisher keinen eigenen Zugang. Doch erinnerte ich mich plötzlich im Krankenhaus an etwas Wichtiges, was ich in einer meiner buddhistischen Sessions gelernt habe: dass wir alle, also auch Zweifler wie ich, Glauben lernen können. Wie? Ganz einfach, indem siesie ihn erfahren, statt sich mehr Wissen zum Thema anzueignen. Eine tiefe Erfahrung ist in einem einzigen Wimpernschlagmoment oft lehrreicher als ein ganzes Studium (womit ich aber letzteres auf keinen Fall in Frage stellen möchte).
Was es dafür allerdings unbedingt braucht, ist eine gewisse Öffnung für die Erfahrung, die manchmal sogar der eigenen Intuition widersprechen kann, und einen Menschen, der einem den Glauben vorlebt. Idealerweise ist das ein Mensch, zu dem man etwas aufsieht, den man vielleicht sogar irgendwie bewundert, ein guter Lehrer also, das heißt jemand, der selbst tief glauben kann. Über die Verbindung mit einem solchen Menschen ist es möglich zu spüren, dass es da wirklich etwas Essenzielles gibt.
Mit diesem Anfang kann ein Wunsch entstehen, all das auch selbst in seiner Heilsamkeit zu erleben. Und vielleicht ist auch eine Sehnsucht fühlbar, das tiefe Vertrauen und den Glauben weiter lernen zu wollen, und wenn man den Weg weitergeht, entsteht dann mit der Zeit die Fähigkeit, sicherer zu glauben, selbst mehr Vertrauen und glaubensstärkende Strategien zu entwickeln, auch und gerade in eigenen neuen, verunsichernden Erfahrungen.
Für mich war nun dieser Mensch meine Mutter in diesen letzten 14 Tagen ihres Lebens. Sie hat mir ihren Glauben offen vorgelebt, ich habe vieles davon aufgenommen und dadurch erfahren dürfen, was für einen besonderen Wert das hatte. Ich empfinde diese Erfahrung von Vertrauen in den Weg aus dem Leben in den Tod, an der mich meine Mutter teilhaben ließ, als Geschenk – auch wenn ich es mir niemals selbst ausgesucht hätte.
Ob und wann Sie solch eine Erfahrung machen, weiß ich nicht. Das lässt sich nicht planen. Aber ich möchte Sie ermutigen, dass Sie sich öffnen können für solche Erfahrungen. Das sind Erfahrungen, die geradezu körperlich fühlbar sind und Sie vielleicht sogar zittern lassen. Zittern ist gut. Ich möchte Sie ermutigen, dass Sie Ausschau halten danach und sich dann darauf einlassen. Und dass Sie nach Resonanz in sich suchen - erforschen Sie ruhig, wie sich das Zittern und die damit verbundene Erschütterung anfühlt. Glauben hat viel mit Spüren zu tun, und mit der Erfahrung von Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht ist das Zittern kein Zeichen von Gefahr, sondern ein Zeichen für einen neuen Weg.
Statt immer alles zu wissen, zu planen und zu kontrollieren, können Sie sich auf unbekannte Empfindungen, die vielleicht in ihnen aufsteigen und die ihnen zunächst eher albern und lächerlich vorkommen, und vielleicht auch auf schwer kontrollierbare oder unbekannte Emotionen und Empfindungen einlassen – und vertrauen, dass diese Erfahrung ein Geschenk für Sie bereithält.
Glaube ist in uns allen als Fähigkeit verankert, uns wachsen zu lassen. Er ist eine immens wichtige Kraft, die uns dabei hilft, schöpferisch tätig zu sein, die Dinge, die uns in unserem Leben wichtig sind, erreichen zu können, und uns auch mit mehr Sicherheit, Vertrauen und Leichtigkeit in einer manchmal unsicheren Umgebung zu bewegen – oder auch im Übergang in eine andere Welt, wie auch immer wir sie uns vorstellen oder spüren.
Ich wünsche Ihnen heute von Herzen, dass auch Sie solche Glaubensüberzeugungen für sich weiterentwickeln können, indem Sie sich für die Geschenke öffnen, die Glaubenserfahrungen anderer Menschen für Sie bereithalten mögen und die Sie dann auch mit Ihren Mitmenschen aus einem offenen Herzen heraus teilen können.