November 2023
Wir haben mehr Ressourcen, als uns bewusst ist
Wenn Sie zum Arzt gehen, tun Sie das normalerweise, weil sie sich in irgendeiner Weise nicht gut fühlen. Und der Arzt geht dann dem Problem nach, das Ihr Wohlergehen beeinträchtigt, er sucht nach einem Defizit, und meist kann er es diagnostizieren und Ihnen eine Therapie empfehlen.
So ist unser Gesundheitssystem organisiert, so sind wir es gewohnt, und das ist nachvollziehbar und auch völlig in Ordnung so. Das System ist defizit- und problemorientiert und darauf ausgerichtet, möglichst spezifisch die erkennbaren Mängel zu benennen und zu beseitigen. Wir alle profitieren davon.
Manchmal können uns die dabei gefundenen Defizite und Probleme aber auch überfordern, vor allem, wenn es viele sogenannte Komorbiditäten gibt, das heißt, wenn wir mit gleich mehreren Diagnosen konfrontiert worden sind, also zum Beispiel Depressionen, Schlafstörungen und einem Hautausschlag oder Rückenschmerzen und vielleicht noch weiteren Beschwerden. Die Wahrscheinlichkeit, etwa bei einer psychischen Erkrankung mit weiteren solcher Komorbiditäten zu tun zu haben, ist sehr hoch.
Wenn wir aber wir immer mehr Probleme haben, auf die wir blicken, dann ist es manchmal so, als würde uns die schiere Menge der Probleme hypnotisieren: Oh je, ich bin so krank, ich bin ein ganz schwieriger Fall, ich habe Angst, dass mich die Fülle an Problemen erdrückt und ich sie nicht bewältigen kann ...
Wie gut, dass wir unseren Blick auch umdrehen können und ihn nicht nur auf unsere Defizite, sondern auch auf das richten können, was in uns für den Umgang mit unseren Problemen zur Verfügung steht: unsere Ressourcen.
Wie ein Motor
Wenn uns der Blick auf die Defizite, die uns belasten, lähmt, dann können wir ihn stattdessen einmal auf die uns zur Verfügung stehenden Errungenschaften wenden, die wir gar nicht erst erwerben müssen, sondern die wir schon in uns tragen, und für die das Wort Ressourcen den Oberbegriff darstellt. So gibt es etwa die grundlegenden zentralen Ressourcen wie Kraft und Lebensfreude, über die ich in den letzten Monaten hier an dieser Stelle im Blog geschrieben habe.
Auch Mut, Kreativität, Bindungsfähigkeit, Fantasie, Vernunft und Autonomie gehören zu unseren Ressourcen, ebenso weitere Fähigkeiten wie etwa die, uns an das zu erinnern, was im Leben schon gut war oder die Fähigkeit, uns selbst steuern zu können. Doch auch die Resilienz als eine Art psychische Widerstandsfähigkeit gehört dazu, also die Befähigung, schwierige Lebenssituationen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen, wie auch die Hoffnung, die Ruhe oder die Gelassenheit.
Auf viele Ressourcen greifen wir im Alltag ganz unbewusst und selbstverständlich zu, etwa die Möglichkeiten zu Perspektivwechsel, zu Distanz oder Humor. Auch auf die Fähigkeit zur Ablenkung. Sie hilft immer, natürlich nicht auf Dauer, weil die Probleme sich nicht von selbst erledigen und wir sie schon lösen müssen. Aber zunächst ist es erst einmal gut, wenn wir den Rucksack mit den ganzen schweren Steinen, den wir auf unserem Rücken tragen, abstellen und etwas anderes machen, was uns guttut und für Ausgleich sorgt. Danach können wir den Rucksack auch mit einem besseren Gefühl wieder aufsetzen.
All das, was ich hier erwähne, sind basale Themen unseres Menschseins, wichtige grundlegende Ressourcen, die wir alle, wenn es einigermaßen gut gelaufen ist, in jungen Jahren mitbekommen haben. Denn wenn ein Kind auf die Welt kommt, hat es erst einmal eine Grundausstattung, um sich bei aller Abhängigkeit von den Eltern in Verbindung mit ihnen und der Umwelt entwickeln zu können.
Natürlich gilt das nicht immer, es können in der Kindheit Dinge passiert sein, die unseren Ressourcenerwerb beeinträchtigt haben. Wie zum Beispiel im Fall einer Frau, die mir erzählte, dass sie die ersten zwei Jahre ihres Lebens überwiegend in einer Klinik verbringen musste, in der ihre Mutter – wie damals üblich – nicht mit übernachten durfte. Sie hatte deswegen eine beeinträchtigte Bindungsfähigkeit. Aber auch sie verfügte – wie wir alle – über viele wichtige Ressourcen. Tatsächlich sind sie uns oft gar nicht bewusst, weil wir mehr gewohnt sind, auf unsere Mängel als auf unsere Ressourcen zu schauen. Doch die Ressourcen können für uns wie ein Motor in der Bewältigung von schwierigen Situationen sein.
Resilienz und Hoffnung
Wie zum Beispiel die bereits erwähnte Resilienz, die Fähigkeit also, wieder aufzustehen, wenn uns irgendwelche schlimmen Erfahrungen niedergeworfen haben. Der Begriff Resilienz kommt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet die Eigenschaft eines Stoffes, nach extremer Spannung wieder in den Ursprungszustand zurückkehren.
Diese Flexibilität wurde in die Psychologie übertragen mit der Idee, dass ein Mensch mit mehr Resilienz in der Lage ist, schwierige Situationen besser zu bewältigen. Das bedeutet überhaupt nicht, dass wir unverletzlich sind, wir fühlen die Wunden unserer Verletzungen, psychisch oder auch physisch. Aber wir können, obwohl wir diese Verletzungen erfahren haben, durch die – wie auch immer geartete – Krise hindurchgehen, und möglicherweise wachsen wir sogar daran.
Was uns dabei hilft, kann unter anderem auch die Zuversicht sein, dass es besser wird, statt wie in einer Depression alles nur schwarz zu sehen. Bildlich gesprochen wäre der Mangel von Hoffnung und Zuversicht, in einer langen Nacht zu denken, dass es morgen noch schwärzer wird, übermorgen die Sonne gar nicht aufgeht und danach vielleicht nie mehr aufgehen wird. Dagegen besteht die Zuversicht darin zu glauben, dass wieder andere Zeiten kommen, dass das Licht am Ende des Tunnels tatsächlich existiert, selbst wenn es am Tunneleingang noch nicht sichtbar ist. Darauf hoffen zu können ist eine Ressource, die wir alle normalerweise in uns tragen, manche von uns mehr, manche weniger, aber sie ist da und ist uns sehr oft nur nicht ausreichend bewusst.
Wenn ich die Ressourcen Zuversicht und Hoffnung beschreibe, meine ich damit natürlich nicht, die Probleme zu bagatellisieren. Oder dass man Menschen, die todkrank sind, entgegen anderer Überzeugung anlügt mit floskelhaften Äußerungen wie: „Das wird schon wieder ...!“ Wir müssen würdigen, was schlimm ist, es ernst nehmen. Aber wir müssen uns davon nicht dauerhaft in den Keller des Daseins ziehen lassen. Es ist fast immer Raum für Hoffnung, denn tatsächlich weiß man ja nie, was die Zukunft bringt, selbst wenn es noch so aussichtslos aussieht.
Wenn wir wirklich den Blick auf das Hoffnungsvolle, das Positive richten, führt allein das schon dazu, dass es uns etwas besser gehen kann. Und diese Fähigkeit zu glauben tragen wir alle in uns, neben vielen anderen. Zudem gibt es so viele Beispiele von Todkranken, die im Blick und im Zugriff auf ihre inneren Ressourcen für die ihnen verbleibende Zeit manchmal sogar mehr Kraft und Lebensfreude entwickeln können als in den Zeiten vor der Erkrankung.
Wie haben wir das eigentlich geschafft?
Der Blick auf unsere eigenen Ressourcen kann also den Blick auf uns selbst und die vorhandenen Perspektiven stark verändern. Bei diesem Perspektivenwechsel geht es erst einmal gar nicht um das, was wir noch mühevoll lernen oder an neuen Gewohnheiten entwickeln müssen, sondern um all das, was wir schon haben. Oft ist das viel mehr, als wir denken, zum Beispiel wenn wir in die Vergangenheit schauen, in der wir schwierige Situationen, Prüfungen oder Krisen überstanden und Dinge geschafft haben, die wir uns vielleicht zunächst gar nicht zugetraut hatten.
Stellen Sie sich zum Beispiel einen Menschen vor, der fünf schwerwiegende Krankheitsdiagnosen erhalten hat und dann zugleich den Blick auf seine Ressourcen richtet und dabei vielleicht sieben zentrale Ressourcen in sich identifizieren kann. Diese Ressourcenschätze können ihm im Umgang mit seinen Krankheiten weiterhelfen – nun ergibt sich ein anderes Bild, ganz anders, als wenn der Mensch nur die Aufmerksamkeit auf das richtet, was im Argen liegt.
Im letzten Monat hatte ich Ihnen von einem Seminar zum Thema „Lebensfreude“ erzählt, das ich vor Kurzem im Kontext einer Hypnotherapietagung der Milton Erickson Gesellschaft Graz (MEI-Graz) mit dem Titel „KRAFT“ durchgeführt habe. In diesem Zusammenhang hatte ich über eine altersregressive Hypnose berichtet, mit der wir die Ressource Lebensfreude in uns selbst finden können. Ein freiwilliger Teilnehmer hatte sich für eine Demonstration zur Verfügung gestellt und dabei ein früheres Lebensalter aufgesucht, nochmals durchlebt und die in dem entsprechenden Lebensalter wahrgenommenen Erfahrungen und Gefühle durchlaufen – er hatte dadurch wieder Zugang zu seiner Lebensfreude gefunden.
So etwas ist auch mit anderen Ressourcen möglich. Es geht zum Beispiel darum, darauf zu schauen, wie wir eine Krise bewältigt haben, die so bedrohlich war, dass wir in dieser Zeit glaubten, da würden wir nie durchkommen. Und dann noch einmal zu erleben: Mensch, wie haben wir das denn eigentlich geschafft? Wir waren vielleicht stark und mutig oder mit viel Ruhe und Gelassenheit ausgestattet oder haben intuitiv sehr besonnen gehandelt.
Wenn wir diese Ressourcen mit in andere Situationen „mitnehmen“ können, die in der Gegenwart für uns schwierig sind, nennen wir das in der Hypnose Ressourcentransfer: die Ressourcen nämlich dahin zu lenken, wo sie jetzt gebraucht werden. Und eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, die eigenen Ressourcen zu entdecken, ist selbst eine zentrale Ressource: dass wir immer wieder gut verbunden sind mit uns selbst.
Wir alle haben Ressourcen
Eine der großen zentralen Ressourcen ist die Fähigkeit, überhaupt zu lernen und Neues in uns aufzunehmen, uns im Laufe des Lebens weiterzuentwickeln – wir können gar nicht anders. Wir Menschen haben eine inhärente Wachstumstendenz, wir wollen an unseren Erfahrungen wachsen und uns entwickeln. Und so können wir darauf vertrauen, dass für uns, wenn wir uns mit freundlicher Grundhaltung mit uns selbst und der Welt beschäftigen, generell etwas Gutes entstehen wird.
Zugleich können wir aber auch die Ressourcen, die schon in uns sichtbar sind, weiter fördern. Den bewussten Blick und Zugriff auf unsere Ressourcen können wir durchaus auch im Erwachsenenleben noch lernen, es ist nicht so, dass man es entweder gelernt hat oder nicht. Wir können in jeder Lebensphase unsere psychische Flexibilität üben. Für Menschen, die sehr verstrickt sind in ihr eigenes Leiden, die sich noch nie mit ihren Ressourcen zu beschäftigen gelernt oder einfach wenige Ressourcen haben, ist das sicher schwieriger als für andere.
Doch primär geht es sowieso auch keineswegs darum, ergänzend zu dem medizinischen Blick auf Mängel und Defizite nun etwa auch noch auf unsere Ressourcen-Defizite und den entsprechenden Entwicklungsbedarf zu schauen. Wir alle haben Ressourcen, und wir alle können im Umgang mit unseren Krankheiten, Problemen und Mängeln die dazu passenden Ressourcen finden und nutzen.
In den nächsten Monaten werde ich Ihnen hier im Blog einige der zentralen Ressourcen weiter vorstellen.