Wir sehen die Dinge, wie wir sind
Stellen Sie sich vor, Sie sind morgens auf dem Weg zu einem Termin spät dran und wollen sich nur noch schnell einen Kaffee holen. Ungeduldig registrieren Sie, dass in der Bäckerei auf Ihrem Weg schon drei Leute vor Ihnen warten.
Nachdem Sie bestellt haben, stellt die Verkäuferin den Becher nicht gleich unter die Maschine, sondern fragt Sie, ob es dazu sonst noch etwas anderes sein darf. Zu allem Überfluss versucht sie Small-Talk und erzählt irgendwas vom Wetter. Als Sie endlich den Kaffee haben, denken Sie an das viele Kleingeld in Ihrer Tasche, aber Sie wissen nicht, ob es ausreicht und nehmen lieber den 50-Euro-Schein.
Sie legen ihn auf die Theke und schauen genervt dabei zu, wie die Verkäuferin etwas umständlich das Wechselgeld zurückgibt. Beim Herausstürmen aus der Bäckerei geraten Sie noch ins Stolpern und verschütten Kaffee auf Ihrer Jacke, weil Sie den Becher in der Hektik nicht richtig verschlossen haben.
Haben Sie die Verkäuferin wahrgenommen? Hat der Kaffee geschmeckt? Ist das ein guter Tagesauftakt?
So ein schöner Morgen
Ich vermute, dass Sie solche Situationen kennen. Und ich gebe zu, auch ich habe ab und zu Tage, die so beginnen. An denen ich die Verkäuferin nicht wirklich registriere und den Kaffee nicht mit Genuss trinke. Wo es gar nicht einfach ist, für den Rest des Tages wieder bessere Laune zu bekommen. Weil ich dem Tag gar keine richtige Chance gebe, ein guter Tag zu werden.
Es gibt aber auch Tage, die fangen so an wie der vor wenigen Wochen. Es war ein schöner, sonniger Morgen, ich stand nicht unter Zeitdruck, und ich hatte Lust, mir einen Kaffee zu kaufen. Ich steuerte also voller Vorfreude auf eine Bäckerei zu. Vor mir warteten schon drei Leute, aber dadurch hatte ich Zeit, mir die Auswahl an verschiedenen Größen der Kaffeeangebote anzuschauen. Und mir fiel ein, dass ich viel Kleingeld in der Tasche hatte, und dass es heute ein guter Tag wäre, es für den Kaffee loszuwerden – es würde wohl für den „Café Grande“ für 3,49 Euro reichen.
Als ich an der Reihe war, kam ich mit der Verkäuferin, die freundlich schaute und eine angenehme Stimme hatte, gleich ins Gespräch, und als sie schließlich den Kaffee in den Becher tröpfeln ließ, nahm ich das Kleingeld, warf einen prüfenden Blick darauf und hatte auf einmal die Befürchtung, dass für den „Café Grande“ genau 1 Cent fehlen könnte.
Normalerweise hätte ich in dieser Situation sofort das Kleingeld wieder eingesteckt und – auch um Zeit zu sparen – zum 50-Euro-Schein in meinem Portemonnaie oder zur Karte gegriffen. Aber es war ein so nettes Gespräch, und die Sonne draußen schien so schön. Aus dieser guten Stimmung heraus zählte ich das Kleingeld in meiner Hand und schaute der Verkäuferin dann entschuldigend ins Gesicht, weil leider doch, wie bereits geahnt, der letzte Cent fehlte und ich sie mit meiner Zählaktion aufgehalten hatte. Ich sagte: „Oh, der letzte Cent fehlt, das ist ja blöd, ich hab aber noch einen Fünfzig-Euro-Schein …“
Und was machte die Verkäuferin? Sie lachte nur und meinte: „Wissen Sie was, geben Sie mir das Kleingeld, das Sie haben, den 1 Cent schenke ich Ihnen!“
„Vielen Dank!“ Welche Freude sich da in mir breitmachte! Ein tolles Gefühl, und so dankte ich ihr gleich noch ein zweites Mal. Wir lächelten uns zu und verabschiedeten uns. Wieder im Auto dachte ich mir: „Das war eine Win-win Situation nach meinem Geschmack.“ Ich hatte meinen Kaffee und dazu noch ein Geschenk der Verkäuferin bekommen, und sie wiederum hatte so früh am Morgen schon einem Menschen – mir – eine wirkliche Freude gemacht. Und so hatten wir alle beide einen guten Start in einen sonnigen Tag erlebt.
Unsere Wahrnehmung folgt unserer Aufmerksamkeit
Warum erzähle ich Ihnen das? Natürlich sind nicht alle Tage gleich gut. Und natürlich haben wir nicht auf alles Einfluss, was uns in unserer Umgebung begegnet. Aber wir haben Einfluss darauf, ob wir Situationen und Menschen bewusst wahrnehmen und ihnen mit offenem Blick begegnen, oder ob wir uns zum Beispiel rein funktional und zielorientiert auf die Umwelt ausrichten und damit das Potenzial an schönen Momenten und bereichernden Begegnungen gar nicht ausschöpfen können.
Denn all das, womit wir im Laufe eines Tages konfrontiert werden, können wir auf verschiedene Weise wahrnehmen oder gar nicht registrieren, und wir werden es – je nach unserer inneren Voreinstellung – ganz unterschiedlich interpretieren. Der Prozess unserer Wahrnehmung ist dabei sehr komplex, und wir tun gut daran, sie zu hinterfragen. „Look again at what you know“ ist einer der vielzitierten Sätze von Milton H. Erickson, einem bekannten Psychiater und Pionier der modernen Hypnose – gemeint ist, noch ein zweites Mal hinzuschauen, statt darauf zu vertrauen, dass der erste Blick schon ein vollständiges Bild ergibt.
Doch warum ist das so komplex? Unsere Wahrnehmung folgt unserer Aufmerksamkeit, und die hat nicht nur etwas mit dem zu tun, was außerhalb von uns passiert, sondern auch mit dem, was in uns vorgeht. Meistens geschieht diese Aufmerksamkeitssteuerung bei uns allen unbewusst, und gerade deshalb glauben wir besonders fest daran, dass das, was wir gerade wahrnehmen, die komplette Realität abbildet.
Doch das Wahrgenommene spiegelt eben nicht nur die äußere Welt, sondern ist unter anderem auch beeinflusst von unserem Gedächtnis, den bisherigen Lernerfahrungen, unseren diesbezüglichen Bewertungen, Gedanken und Emotionen, und auch davon, wie es uns gerade körperlich geht. Die Reize von außen müssen je nach Voreinstellung erst einmal eine bestimmte Schwelle überschreiten, damit sie überhaupt bis in unsere bewusste Wahrnehmung vordringen können – und so bleiben immer viele Eindrücke außen vor.
Es gibt ein schönes Zitat aus dem Talmud, dass diesen Sachverhalt beschreibt, es lautet: „Wir sehen nicht die Dinge, wie sie sind, sondern wir sehen sie, wie wir sind. “ Deshalb nehmen wir vieles eigentlich Offensichtliche nicht wahr – und sehen andererseits manchmal Dinge, die uns sonst nie aufgefallen wären. Lassen Sie uns das nun noch einmal genauer anschauen.
Das Fellbündel im Park
In der Psychologie wird die Komplexität unserer Wahrnehmung oft am Beispiel einer Begegnung mit einem Hund erklärt. Wenn wir, vielleicht aufgrund einer zurückliegenden negativen Erfahrung, Angst vor Hunden haben, mit dieser inneren Voreinstellung durch einen Park gehen und über eine Wiese ein Fellbündel laufen sehen, werden wir vermutlich sofort denken: „Oh je, das ist bestimmt ein Hund. Gleich wird er hierher rennen, mich anspringen und mich beißen.“ Wenn wir dagegen Hunde gern mögen, werden wir beim Anblick des Fellbündels vielleicht denken: „Ach wie nett, dahinten ist ein Hund, den würde ich jetzt gerne mal streicheln!“ Und wenn wir eine neutrale Einstellung zu Hunden haben, werden wir das Fellbündel (das ja gar nicht unbedingt ein Hund sein muss) vielleicht kurz sehen, aber dann wieder wegschauen und uns weiter keine Gedanken darüber machen.
Sie können auf den zwei Schaubildern sehen, was da passiert. Wenn meine Voreinstellung durch meine Angst vor Hunden geprägt ist, bestimmt diese Emotion meine Wahrnehmung und meine erste Reaktion. Die wachsame Aufmerksamkeit ist vor allem darauf gerichtet, das zu sehen, was die Angst bestätigt. Da ich davon überzeugt bin, dass der Hund mich anspringen und beißen wird, fühle ich mein Herz schneller klopfen und bekomme noch mehr Angst. Indem ich mehr Angst fühle und die sich auch körperlich ausdrückt, indem mein Herz rast, meine Hände vielleicht feucht werden und sich die Beine schwach anfühlen, bestimmt das mein Verhalten und ich werde den Park so schnell wie möglich verlassen wollen.
Ich werde daher nicht feststellen können, ob das Fellbündel wirklich ein Hund war und – falls Hund – ob er nicht vielleicht sogar schwanzwedelnd auf mich zugelaufen wäre und sich gerne eine Streichel- oder Spieleinheit abgeholt hätte. Wahrscheinlich werde ich beim nächsten Mal einen anderen Weg gehen, möglicherweise den Park ganz meiden, meinen Bewegungsradius und damit mein Erlebnispotenzial erheblich einschränken.
Wenn meine Voreinstellung dagegen beinhaltet, dass ich Hunde gerne mag, wird die erste Reaktion von Neugier geprägt sein, meine Aufmerksamkeit wird darauf gerichtet sein, dem zu begegnen, was ich so mag, nämlich einem Hund, den ich vielleicht sogar streicheln kann. Meine Gedanken und Emotionen werden dann eher dazu führen, dass mein körperliches Erleben von Energie bestimmt ist. Ich werde näher auf das Fellbündel zugehen wollen und mich auf die Begegnung mit dem Hund einlassen.
Aufmerksamkeitslenkung
Da uns dieser Zusammenhang zwischen innerer Voreinstellung, gerichteter Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und situativer Interpretation aber meist nicht bewusst ist und sich unsere automatische Wahrnehmung in der Regel eher nach außen als nach innen wendet, merken wir nicht, wie subjektiv unsere Wahrnehmung tatsächlich ist. Sie ist eben alles andere als das objektive Sehen von äußeren Eindrücken, sondern das, was wir bewusst oder unbewusst antizipieren. Daran hängen viele Verarbeitungsprozesse, die wir währenddessen, aufgrund ihrer Geschwindigkeit und Automatisierung und auch unseres Involviertseins, gar nicht mitbekommen.
Das beeinflusst nicht nur unser Erlebnispotenzial, sondern auch die Verlässlichkeit unserer Wahrnehmung. Deswegen kann das zum Beispiel mit der Vorstellung von Objektivität bei Augenzeugen-Aussagen auch nicht so einfach funktionieren, wie wir uns das vorstellen. Wissen wir nicht normalerweise, was wir gesehen oder gehört haben, und verfügen wir nicht über unbestechliche Sinnesrezeptoren, die uns wahrnehmen lassen, was wirklich passiert ist?
Nein, so funktioniert das in Wahrheit eben nicht. Augenzeugen gelten zwar immer als besonders objektiv, dabei hat deren Wahrnehmung und deswegen auch ihre Aussage viel damit zu tun, wohin sie ihre Aufmerksamkeit in dem Moment gerichtet und was sie dabei gerade gefühlt und gedacht haben.
Wir können aber lernen, unser Bewusstsein zu reflektieren. Dann verstehen wir besser, wie wir eigentlich die ganze Zeit selektiv wahrnehmen und dass wir über die innere Voreinstellung beziehungsweise Lenkung unserer Aufmerksamkeit Dinge wahrnehmen, die nicht nur mit den äußeren Gegebenheiten, sondern vor allem auch mit unseren tieferliegenden Bedürfnissen und Emotionen zu tun haben. Wie wir dann unsere Wahrnehmung bewusster steuern und daraus lernen können – darüber schreibe hier mehr im nächsten Monat.