Mai 2025

Der menschliche Geist – ein Grund zur Begeisterung
Was bedeutet es, Mensch zu sein? Am Ende meines Blogtextes im April hatte ich Ihnen angekündigt, dass ich die Antwort auf diese Frage in den Texten der folgenden Monate etwas auffächern will.
Es ist eine Frage, die mich seit Jahren begleitet, und ich meine sie weniger biologisch oder soziologisch, sondern tiefer, existenzieller. Dahinter stecken weitere Fragen wie: Was macht uns Menschen zu Menschen? Was macht unser Menschsein aus? Und wie können wir es bewusster, reicher, lebendiger erleben?
Beginnen will ich heute mit einem Blick auf den menschlichen Geist. Denn wenn wir uns dafür zu interessieren beginnen, wie unser Geist funktioniert, wie unsere Aufmerksamkeit, unsere Wahrnehmung wirkt, wie wir empfinden, dann können wir eine neue Beziehung zu uns selbst schaffen.
Als ich mich schon ans Schreiben machen wollte, erinnerte ich mich plötzlich an ein Erlebnis vor vielen Jahren, das mir auf überraschende Weise ein Gefühl dafür gegeben hatte, was das Zentrale am Menschsein ist. Es war ein Moment in der Kathedrale Notre Dame in Chartres ...
Vollkommene Schönheit
Als ich damals in der Kathedrale stand, faszinierte mich die blaue Farbe der mehr als 800 Jahre alten Fenster, das Licht, das durch sie fiel, die Stille und die Weite des Raumes auf eine Weise, die ich kaum in Worte fassen kann.
Es war, als wäre alles für einen Augenblick vollkommen. Zeitlos. Vollständig. Ich war nicht mehr nur Beobachterin, ich war Teil dieses Moments, dieses Raumes, dieser Schönheit, in einem wirklich ganz umfassenden Sinne der ganz unterschiedlichen Aspekte, die in dem Wort Schönheit so stecken können.
Die Wirkung, die dieser Raum auf mich ausübte, erreichte mich auf einer tieferen Ebene. Später stieß ich in einem Reiseführer auf die Bemerkung eines Zeitgenossen aus dem 12. Jahrhundert, dass in diesen Fenstern das durchscheinende Sonnenlicht gleichsam göttlich werde, und in gewisser Weise war das auch eine zunächst einmal passende Beschreibung dafür, dass ich den Moment in der Kathedrale als vollkommen empfand.
Natürlich könnte man jetzt anfangen, das, was diese Empfindung auslöste, zu analysieren, und über die Anzahl und die Anordnung der Fenster, die Architektur des Raumes, die Farbe, die beim Glas verwendet wurde, zu sprechen. Doch darum geht es mir gar nicht, denn Empfindungen wie die, die ich damals in der Kathedrale hatte, sind nicht an bestimmte Bauwerke oder überhaupt einen bestimmten Ort gebunden.
Wir können Ähnliches auch in anderen alten oder auch ganz modernen, sakralen oder profanen Bauwerken erleben, bei der Betrachtung von Kunstwerken, auf einem Berg mit großartiger Aussicht, beim Anblick sehr alter gewaltiger Bäume, beim Blick auf das weite Meer – oder auch in der erfüllenden Begegnung mit anderen Menschen.
Unabhängig vom konkreten Auslöser kann vollkommene Schönheit in uns Menschen etwas zum Klingen bringen, was wir immer in uns tragen, dessen wir uns aber nur selten bewusst werden. Die Wahrnehmung der Vollkommenheit erzeugt dann eine Resonanz in der Fülle unseres ganzen Menschseins, verknüpft sich mit unserer eigenen Schönheit, die wir in solchen Momenten spüren können.
Deswegen finde ich auch die Idee passender, dass auf das damals in Chartres durch die Fenster scheinende Licht nicht nur die Bezeichnung göttlich, sondern fast noch mehr die Bezeichnung menschlich in der umfassenden Bedeutung unseres Menschseins zutreffend ist: Es war ein menschliches Licht.
Uns selbst besser verstehen
Denn so wie diese Kirche, wie ein uralter Baum oder die Weite des Meeres ist jeder Mensch auch ein Wunderwerk der Natur, ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Fähigkeiten, Empfindungen, Perspektiven und Potenziale.
Doch es ist bemerkenswert, wie leicht wir uns im Alltag auf nur einzelne Aspekte davon reduzieren. Wir haben uns unseren Körper und auch unseren Geist und alle unsere Gaben als selbstverständlich und funktionierend untertan gemacht und meckern nur dann, wenn etwas davon mal nicht funktioniert oder so zur Verfügung steht, wie wir es erwarten.
Außer in solchen erfüllenden Augenblicken, wie bei mir in der Kathedrale, gelingt uns jedoch nur selten, uns in unserer Ganzheit wahrzunehmen, uns unseres Menschseins vollständig bewusst zu werden. Nur in derartigen Momenten tiefer Berührung – durch Kunst, Natur oder Begegnung mit anderen Menschen – spüren wir eine Vollkommenheit, die nicht erklärbar, aber erfahrbar ist.
Dann können wir eine Ahnung davon bekommen, dass wir nicht nur da sind, um zu funktionieren, Ziele zu erreichen, uns zu optimieren oder optimiert zu werden. Sondern dass Menschsein bedeutet, schöpferisch zu sein, zu empfinden, wahrzunehmen und mit der Welt in Resonanz zu treten. Die Fähigkeit zu solcher Resonanz ist Teil unseres Wesens.
Solch ein Moment der Resonanz ist davon geprägt, dass er komplett gefüllt ist, ohne dass es irgendeine Funktionalität darin gibt. Es geht uns dann nicht darum, dass wir zu einem bestimmten Zweck in diesem Moment an diesem Ort sind, sondern wir sind in diesem Augenblick genau das, was wir empfinden. Das ist unendlich, das ist komplett, das ist fraglos, ohne Bewertung, das ist einfach genau so, wie es ist.
Wir können uns darin einfinden und dann mit dem, was um uns herum ist, in einer geborgenen Verbindung sein. Dann haben wir Zugang zu einer Schönheit, die nichts mit äußeren Schönheitsidealen zu tun hat, sondern im inneren Erleben liegt. Diese Schönheit liegt im Gefühl von Stimmigkeit, Berührtheit und Annahme – nicht in Normen, Körperformen oder Effizienz, sie entsteht, wenn wir lebendig und verbunden sind. Das zu spüren ist eines der größten Geschenke des Lebens, das wir manchmal unvorhersehbar erhalten.
Es muss aber gar nicht so sein, dass wir diese Wahrnehmung, diesen Zugang zu unserem eigenen inneren Reichtum nur in wenigen uns überwältigenden Momenten gleichsam geschenkt bekommen. Unsere Aufmerksamkeit ist eine lenkbare Kraft, was wir wahrnehmen, hängt davon ab, wohin wir unseren Fokus richten. Wir können lernen, bewusster mit unserer Aufmerksamkeit umzugehen – statt sie unbewusst von Reizen steuern zu lassen.
Denn unser Bewusstsein ist kein Zustand, sondern ein interaktiver Prozess. Es bedeutet, dass wir uns selbst in unserem Denken, Fühlen und Handeln wahrnehmen – nicht im Sinne von ständiger Kontrolle, sondern von innerer Präsenz und Reflexion.
Bewusstsein in diesem Sinne bedeutet, uns selbst besser zu erkennen und in den Facetten unseres Denkens, Fühlens und Handelns verstehen. Die für viele von uns überraschende Erkenntnis lautet dann: Es ist alles schon da in uns, was wir für ein erfüllendes Leben brauchen – wir haben die Chance, uns zu entwickeln, indem wir lernen, es zu sehen.
Ein Feld unendlicher Möglichkeiten
Allein schon unsere geistige Ausstattung ist reich – wir nutzen oft nur einen Bruchteil davon und wissen gar nicht, welche Fähigkeiten in uns schlummern. So wie Menschen, die einen großen Werkzeugkasten besitzen, aber immer nur wenige Werkzeuge aus der oberen Schublade daraus benutzen und andere in ihrer Funktion gar nicht mehr auf dem Schirm haben, oder Besitzer*innen einer modernen, komplexen Küchenmaschine, deren Bedienungsanleitung sie nie gelesen haben und deren viele Möglichkeiten sie somit gar nicht ganz ausnutzen.
Dieses fehlende Bewusstsein für ihre geistige Ausstattung führt dazu, dass viele Menschen sich von ihrem Geist eher beherrscht als getragen fühlen, dass sie unter ihren eigenen Gedanken leiden. Dass sie glauben, was sie denken, dass sie ihre Gedanken als Fakten, als Realität wahrnehmen.
Doch Gedanken sind keine Tatsachen. Sie sind gestaltbar. Einzelne Gedanken sind immer nur ein Ausschnitt aus dem Feuerwerk an Ideen, Geschichten, Erinnerungen und Hypothesen, aus dem Feld unendlicher Möglichkeiten, das den menschlichen Geist ausmacht. Er ist eine nie versiegende Quelle von Gedanken, ein Schöpfungsinstrument, dessen Richtung wir beeinflussen können.
Genau darin liegt unsere Freiheit: Wir sind nicht Opfer unserer Gedanken. Wir können lernen, sie zu erkennen, zu hinterfragen, umzulenken, neu zu gestalten, um unser Menschsein bewusster zu gestalten.
Das Denken ist einer der zentralen Bestandteile unseres Menschseins. Es ist eine Fähigkeit, die wir sowohl automatisch als auch bewusst einsetzen können. Wir können uns erinnern, imaginieren, analysieren, reflektieren. Wir können Perspektiven wechseln, mit Sprache Bilder schaffen, Gedichte verfassen, Lösungen entwerfen. Wir können unsere Gedanken lenken oder ihnen folgen.
Und das ist nur ein Aspekt, unser Denken hat auch eine körperliche Komponente. Wenn ich mich erinnere, wie ich mich in Chartres gefühlt habe, dann spüre ich in meinem Inneren dieselbe Ruhe, dieselbe Weite, obwohl ich physisch ganz woanders bin. Denn unsere Gedanken sind eng mit unseren Körperempfindungen verbunden. Ein einziger Gedanke kann unseren Puls beschleunigen, unsere Atmung verflachen oder uns Tränen in die Augen treiben.
Unsere menschliche Wahrnehmung der Realität ist nicht auf das beschränkt, was im Moment äußerlich geschieht – sie ist ein aktiver, innerer Prozess. Wir nehmen mit unseren Sinnen wahr (sehen, hören, fühlen etc.), aber vor allem verfügen wir über die Fähigkeit, Erlebtes aus der Vergangenheit innerlich wieder hervorzurufen und sogar in die Zukunft zu projizieren.
Doch wir können uns nicht nur an vergangene Situationen so lebendig erinnern, dass wir sie emotional und körperlich erneut durchleben können, sondern uns auch vorstellen, wie Zukünftiges sein könnte – mit allen möglichen Details, Gefühlen und inneren Bildern. Diese inneren Bilder sind oft so real, dass sie unsere Stimmung, unsere Entscheidungen und sogar unsere Körperreaktionen beeinflussen – positiv wie negativ.
Das ist eine Art „mentales Zeitreisen“: Wir bewegen uns geistig durch Zeiträume, und unser Körper reagiert, als wäre es Gegenwart. Genau darin liegt eine enorme Gestaltungskraft – aber auch das Risiko, dass wir uns in Ängsten, Sorgen oder alten Mustern verfangen. Bewusstsein zu erlangen über diese Fähigkeit, ist der erste Schritt dafür, dass wir sie konstruktiv nutzen können.
Eine weitere Fähigkeit unseres Geistes ist die Aufmerksamkeitslenkung. Ein Begriff, der vielleicht etwas technisch klingt, aber im Kern etwas ganz Lebendiges meint: Worauf richte ich meine Wahrnehmung? Was nehme ich in den Fokus?
Im Sinne des heute oft verwendeten Begriffes „Achtsamkeit“ kann die Antwort auf diese Fragen lauten: Ich achte auf das, was ist. Ich lenke meinen inneren Scheinwerfer bewusst – auf einen Gedanken, ein Körperempfinden, ein Gefühl, einen Geruch, eine Erinnerung.
Unsere Aufmerksamkeit ist, obwohl wir das oft meinen, kein statisches Werkzeug. Sie ist beweglich, formbar, reaktiv – und eben auch lenkbar. Wenn ich lerne, meine Aufmerksamkeit gezielt zu richten, verändert sich meine innere Welt. Und damit auch meine Außenwelt. Denn was ich sehe, höre, fühle, das wird durch meinen Fokus auf dem Hintergrund bisheriger Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster weiter geprägt.
Deswegen ist es gut, wenn wir uns immer mal wieder bewusst machen, dass das, was wir uns bisher vorgestellt haben, nur ein kleiner Ausschnitt dessen ist, was es an Fülle im Leben in der Welt gibt. Und dass wir immer wieder, egal in welcher Lebenssituation wir sind, Überraschungen und Staunen erleben können, wenn wir bereit sind, uns mit dem, was uns in unserem Menschsein auszeichnet, wieder in die Resonanz mit der Welt zu begeben.
Ein Raum, der entdeckt werden darf
In diesen Zeiten, in denen Selbstoptimierung für viele Menschen ein so großes Thema ist, ist es mir wichtig, noch einmal hervorzuheben, dass es mir bei diesem Blick auf den menschlichen Geist nicht darum geht, ihn zur Leistungsmaschine zu machen. Es geht um etwas anderes als Selbstoptimierung, es geht nicht um Leistung oder „besser zu werden“, sondern um ein Erkennen und Annehmen dessen, was ohnehin in uns da ist. Um Begeisterung für unsere eigene Ausstattung und um Freude an der Entdeckung dieser Ausstattung.
Ich glaube, dass Bewusstsein nicht bedeutet, immer alles zu kontrollieren oder zu verstehen. Es bedeutet vielmehr, präsent zu sein. Mit dem, was ist. Mit dem, was ich gerade denke, fühle, erlebe. Bewusstsein ist eine Art inneres Licht, das uns, wie mir damals das Licht in der Kathedrale von Chartres, hilft, uns selbst zu spüren und zu erkennen – auch in den dunkleren Momenten.
Wenn wir beginnen, uns dafür zu interessieren, wie unser Geist funktioniert, wie unsere Aufmerksamkeit wirkt, wie wir empfinden, dann schaffen wir eine neue Beziehung zu uns selbst. Wenn wir unser inneres Werkzeug neu entdecken, entstehen Begeisterung und Freude sowie der Wunsch, es besser zu verstehen und zu pflegen.
Dafür müssen wir alte Vorstellungen loslassen. Zum Beispiel die Idee, dass wir "fertig" sein müssten. Dass es ein Endziel gibt. Eine finale Version unserer selbst. Ich glaube nicht daran. Ich glaube, dass wir immer in Bewegung sind, in Veränderung, im Werden. Es kann kein sinnvolles Ziel sein, irgendwann fertig zu sein, glücklich oder so oder so zu sein.
Aber wir alle haben irgendwelche Talente oder Begabungen, und ich sehe es nicht nur als Möglichkeit, sondern auch als Pflicht unserer eigenen Menschlichkeit gegenüber, diese zu entfalten. Denn das menschliche Leben ist ein Geschenk, das sich, wenn wir es zulassen, mit den Jahren immer weiter entfaltet.
Es ist ein lebendiger Prozess, ein Abenteuer. Manchmal ist es schwer, manchmal schmerzhaft, manchmal verwirrend. Aber es ist auch reich, sinnlich, geistreich, erfüllt von Möglichkeiten. Wenn wir beginnen, uns mit dieser Fülle zu verbinden, statt uns in Mangelgedanken zu verlieren, dann öffnet sich etwas. Dann können wir anders leben.
Vielleicht ist das Menschsein am Ende genau das: die Bereitschaft, sich selbst immer wieder neu zu entdecken. Ich wünsche Ihnen, dass Sie immer wieder neu auf das schauen können, was schon da ist. Dass sie das Wunder in Ihnen zu sehen lernen. Nicht, um etwas zu erreichen, sondern um das zu entdecken, was Sie ohnehin schon sind: ein Mensch. In aller Tiefe, mit aller Unvollkommenheit, und in aller Schönheit.
Unser Menschsein ist kein Produkt, das optimiert werden muss. Es ist ein Raum, der entdeckt werden darf. Es ist kein Zustand, den wir erreichen. Es ist ein Weg, den wir gehen. Und je bewusster wir gehen, desto mehr Tiefe, Wärme und Bedeutung kann unser Leben entfalten.