November 2024
Novemberblues oder Depression
Nun ist November, und wir sind wieder in einer Zeit, in der die Krankheiten um sich greifen. Damit meine ich nicht nur Corona mit seinen Mutationen, sondern auch die üblichen Erkältungskrankheiten, die uns jetzt besonders gerne anfliegen.
Wir gehen ganz unterschiedlich damit um. Männern wird nachgesagt, dass sie einen Schnupfen häufig besonders dramatisch inszenieren, umgekehrt war es vor Corona auch nicht unüblich, sich selbst mit Erkältungssymptomen ins Büro zu schleppen, aus Pflichtgefühl oder um die Kolleg*innen nicht im Stich zu lassen.
Seit Corona haben wir etwas mehr Respekt vor Grippe-ähnlichen Symptomen und nehmen auch Impfungen wieder ernster, und doch wissen wir unverändert: Bei Erkältungskrankheiten gibt es in der Regel einen Anfang und ein Ende und es ist nichts wirklich Dramatisches. Und wir vertrauen der alten Regel: Drei Tage kommen sie, drei Tage bleiben sie, drei Tage gehen sie.
Doch der November und überhaupt Herbst wie Winter sind nicht nur die hohe Zeit der viralen Infekte. Wenn die die Tage kürzer werden, der Morgen gar nicht hell werden will und die Sonne sich tagelang nicht sehen lässt, rutschen wir auch leicht in eine zeitweilige Niedergeschlagenheit. Manche nennen sie auch Melancholie, Tristesse, Schwermut, oder sie sprechen vom „Novemberblues“. Normalerweise haben diese Zustände, wie die Erkältungskrankheiten, einen Anfang und ein Ende – zum Beispiel spätestens dann, wenn sich die Sonne endlich mal wieder am Himmel zeigt.
Was aber, wenn diese gedrückte Stimmung länger bleibt, immer wieder auftaucht und es uns auch schwer macht, unseren Alltagsverpflichtungen nachzugehen: Ist das noch ein harmloser Novemberblues oder vielleicht schon eine Depression, wegen der wir einen Arzt oder eine Psychotherapeutin konsultieren sollten?
Was tun?
Mit der Herbstmelancholie haben wir bestimmt alle schon unsere Erfahrungen gemacht, und wir kennen sie auch aus Gedichten von Eichendorff, Rilke, Hesse oder auch aus diesem von Theodor Storm:
Seufzend in geheimer Klage
Streift der Wind das letzte Grün;
Und die süßen Sommertage,
Ach, sie sind dahin, dahin!
Nebel hat den Wald verschlungen,
Der dein stillstes Glück gesehn;
Ganz in Duft und Dämmerungen
Will die schöne Welt vergehn.
Wenn der Nebel uns derart seufzen lässt, ist das zunächst einmal kein Grund zur Beunruhigung. Eine wichtige Rolle spielt tatsächlich der Lichtmangel – wir Menschen brauchen Licht für ein lichtes Inneres, und wenn sich das rar macht, erleben wir Mangelerscheinungen, gegen die wir mit Tageslichtlampen und Lichttherapien sogar etwas tun können. Oft geht die Bedrückung aber auch von selbst genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen ist.
Falls sie doch einmal mehrere Tage anhält, können wir oft auf die auf früherer Erfahrung basierende Gewissheit zurückgreifen, dass es trotzdem wieder vorbeigeht. Wenn es aber einmal schwerer fällt, da wieder rauszukommen, sind viele Menschen ratlos, was sie nun tun sollen. Sie wollen aus einer Mücke keinen Elefanten machen und nicht in unnötigen Aktionismus verfallen, aber manche von uns treibt schon die Sorge um, es könnte etwas Ernsteres dahinterstecken, etwa eine Depression, die behandelt werden müsste.
Vor einem Gang zum Psychologen haben viele Menschen aber gleichzeitig auch Angst. Sie wissen gar nicht so genau, an wen sie sich da wenden können, und andere danach zu fragen, fällt schwer. Zudem ist der Gang zu einem Psychologen für sie häufig mit der Sorge verbunden, dort irgendwie als „verrückt“ abgestempelt zu werden und vielleicht auch schnell in eine Dynamik von Tabletteneinnahme oder gar stationärem Aufenthalt zu geraten, aus der sie dann so leicht nicht mehr herauskommen.
Therapeutische Sprechstunde
Dabei machen die meisten von uns, wenn es nicht um die Psyche geht, überwiegend unkomplizierte Erfahrungen mit Arztbesuchen, entweder bei kleinen Wehwehchen oder auch bei Routineuntersuchungen. Wie erleichternd ist es, nach dem regelmäßigen Kontrolltermin beim Zahnarzt mit der Gewissheit wieder nach Hause gehen zu können, nun erst einmal wieder ein halbes Jahr Ruhe zu haben. Genauso, wenn der Hautarzt den etwas beunruhigenden Fleck am Bein als ganz harmlos diagnostiziert hat. Oder wie ich, wenn ich von meinem früheren Hausarzt, der sich für gute Blutwerte begeistern konnte, mit der Bestätigung, dass „eine große Portion Gesundheit“ in mir stecke, wieder entlassen wurde.
Die gleiche gute Erfahrung können Sie auch bei mentalen oder emotionalen Problemen machen oder eben auch bei einer hartnäckigen Verstimmung beziehungsweise dem Gefühl von Niedergeschlagenheit. Sie können zum Beispiel bei uns – oder natürlich auch anderen Psychologischen Psychotherapeut*innen – ganz unverbindlich in die sogenannte „therapeutische Sprechstunde“ (kurz TS) kommen – so heißt das bei uns, wenn wir Hilfesuchenden erste Termine anbieten. Dafür benötigen Sie keine Überweisung, nur Ihre Krankenversicherungskarte, und wir können uns über das, was Sie bedrückt, ausführlicher unterhalten.
Da geht es erst einmal um Fragen wie: Was liegt mir auf dem Herzen, was ist im Moment los, was ist die Situation, in der ich bin? Und was ist das überhaupt, was ich da habe? Was brauche ich, damit es mir besser geht? Vielleicht hilft Ihnen eine therapeutische Kurzberatung von zwei, drei Stunden – bis zu drei therapeutischen Sprechstunden sind hier bei uns fast immer zeitnah möglich. Brauche ich eine Akutbehandlung? Oder ist es wichtig, dass ich eine längere Psychotherapie mache? Was für eine Art von Unterstützung hilft mir, ist vielleicht sogar dieses eine Gespräch schon ausreichend?
Die therapeutischen Sprechstunden sind nämlich genau dafür da, solche Fragen abzuklären. Und es ist einfach ein anderes Gefühl, wenn auf Ihre Sorgen eine Expertin oder ein Experte geschaut hat, als damit allein auf weiter Flur zu sein oder im Internet nach Auskunft zu suchen – wo Sie mit einer Flut an Informationen darüber konfrontiert werden, was es alles für psychische Erkrankungen gibt und wie Sie immer weiter in eine Abwärtsspirale hineingeraten können.
Sie können nach der ersten TS auch in unserer Psychoedukativen Gruppe (PEG) weitere Unterstützung bekommen. Diese Gruppe haben wir eingerichtet, weil es uns ein besonderes Anliegen ist, möglichst allen Klient*innen, die sich an unsere Praxis wenden, im Bereich der Grundversorgung schnellstmöglich ein Angebot zur Psychotherapie machen zu können. Hier können Sie, ohne lange Wartezeit und ohne vorherige Beantragung bei der Krankenkasse, die dennoch die Kosten trägt, teilnehmen. In insgesamt sieben Gruppensitzungen beschäftigen wir uns mit verschiedenen Inhalten zu den Themenbereichen Angst und Depression, Achtsamkeit und Selbstfürsorge.
Dabei stellen wir, die Therapeutinnen, Ihnen hilfreiche Informationen und therapeutische Interventionen zur Verfügung. Und ebenso wichtig ist der gegenseitige Austausch von Gedanken und Erfahrungen durch die Teilnehmer*innen selbst!
Novemberblues
Wo aber verläuft nun eigentlich die Grenze zwischen einer harmlosen Verstimmung und einer ernster zu nehmenden Depression?
Nehmen wir als erstes Beispiel einmal an, Sie stellen an so einem typischen dunklen Novembertag beim Aufwachen fest, dass Sie keine Lust haben aufzustehen, sich niedergeschlagen und kraftlos fühlen und dann in der Folge irgendwie durch den Tag schleppen. Die Arbeit schaffen Sie gerade noch, weil sie nun einmal erledigt werden muss, aber das Treffen mit einer Freundin oder einem Freund verschieben Sie, stattdessen bleiben Sie lieber auf ihrer Coach sitzen und schauen Ihre Lieblingsserie, bei der Sie dann einschlafen ... Vielleicht geht das sogar noch einen zweiten oder dritten Tag so oder so ähnlich.
Und wissen Sie was? Ich sehe darin überhaupt kein Problem, denn ich finde, das darf ab und zu durchaus einmal sein in einer Welt, in der wir überwiegend funktionieren und uns sonst permanent allen Anforderungen stellen. Das ist dann nicht mehr und auch nicht weniger als ein klassischer Novemberblues und mit ihm eine kleine Rückzugsbewegung, die ihren Sinn hat.
Meine Empfehlung an Sie, wenn Sie sich in einer solchen Situation befinden, lautet: Tun Sie sich etwas Gutes, sogar, wenn Sie dazu in dem Moment noch keine wirkliche Lust haben. Es wird sicher Dinge geben, die Sie normalerweise gerne machen, von denen Sie wissen, dass sie Ihnen, wenn Sie sich gut fühlen, Freude bereiten.
Manchmal ist es tatsächlich so, dass auch diese Dinge in solch einem Novemberblues vielleicht nicht auf Anhieb erfüllend und schön sind. Aber wenn Sie etwas Geduld mit sich selbst aufbringen und ein paar davon nacheinander machen, dann wird es schnell besser. Das kann, je nach Befindlichkeit, zum Beispiel eine moderate körperliche Bewegung an der frischen Luft sein, weil das fast allen Menschen wohltut, oder vielleicht kochen Sie sich auch Ihr Lieblingsessen oder...
Und wenn Sie spüren, dass sie traurig sind, kann es auch richtig sein, einfach gar nichts zu tun oder vielleicht ein entsprechendes Musikstück zu hören und dabei ein bisschen zu weinen. Das wirkt dann wie bei einem Regen: Wenn es sich abgeregnet hat und der Himmel die Wolken wieder losgeworden ist, kann auch die Sonne wiederkommen ...
Vom Teufelskreis zum Engelskreis
Möglicherweise verläuft es aber auch anders, so wie in meinem zweiten Beispiel. Sie gehen am zweiten Tag zwar nochmals zur Arbeit, aber dort schleppen Sie sich nur noch irgendwie durch den Tag und haben dabei das Gefühl, dass Ihre Kraft weiter abnimmt. Sie sagen das Treffen mit der Freundin oder dem Freund also erneut ab, spüren dabei ihre oder seine Enttäuschung und fühlen sich schlecht dabei. Sie denken, dass Sie sich eigentlich zusammenreißen sollten.
Dann machen Sie sich Vorwürfe und haben ein schlechtes Gewissen, und es fallen Ihnen im Verlauf des Abends noch andere Dinge ein, die Sie falsch gemacht zu haben meinen und wegen derer Sie sich weitere Gedanken machen. Der nächste Tag erscheint Ihnen kaum zu bewältigen, und Sie schlafen schlecht.
Am folgenden Tag fällt Ihnen die Arbeit noch schwerer, sie machen einige Fehler, können sich kaum auf Ihre Aufgaben konzentrieren, was Ihr negatives Urteil über sich selbst verstärkt. Sie stellen sich vor, was passiert, wenn Sie weitere Fehler machen und dafür von Kolleg*innen kritisiert werden. Sie befürchten nun, dass Sie Ihre Aufgaben immer schlechter schaffen werden und denken darüber nach, ob Sie hierfür überhaupt die geeignete Person sind.... ...
Wenn es so oder so ähnlich verläuft, dann könnte das darauf hinweisen, dass sich gerade ein kleiner Teufelskreis zu entwickeln beginnt, der möglicherweise auf eine leichte depressive Episode zusteuert.
Dieser Teufelskreis hat zum Inhalt, dass verschiedene Symptome (wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und negative Gedanken) gleichzeitig auftreten, phasenweise ineinandergreifen, sich gegenseitig verstärken und dann auch länger andauern. Manchmal kommen noch weitere Probleme dazu wie zum Beispiel anhaltende Schlafstörungen, nächtliches Grübeln, Kopf- oder Rückenschmerzen.
Das kann dann eine negative Abwärtsspirale sein, in diesem Fall eine sich entwickelnde Depressionsspirale: Die negativen Gedanken und die emotionalen Reaktionen schaukeln sich immer weiter auf, dadurch kommt es zu Verhaltensänderungen, sozialem Rückzug und auch einer Verschlechterung der körperlichen Verfassung, was dann wiederum die negativen Gedanken, Gefühle und damit auch den sozialen Rückzug verstärkt.
Dieser Teufelskreis oder diese Spirale lässt sich auch mit folgendem Dreieck illustrieren:
Diese mögliche Dynamik zu verstehen kann Ihnen helfen, Ihre herbstliche Verstimmung richtig einzuordnen. Das, was wir Novemberblues nennen, also so etwas wie im ersten eben geschilderten Beispiel, ist in den meisten Fällen harmlos und geht von selbst vorüber.
Im zweiten Beispiel handelt es sich um eine leichte depressive Episode, die mit einigen therapeutischen Gesprächen gut zu bearbeiten ist und dann auch wieder weggeht. Es gibt allerdings auch eine mittelschwere depressive Episode, die wäre etwas intensiver, auch etwas länger anhaltend, doch auch sie ist mit einer Psychotherapie sehr gut behandelbar. Bei einer akuten schweren depressiven Episode schließlich würde man vor allem wegen der starken Symptombelastung in Betracht ziehen, parallel eine medikamentöse Behandlung einzuleiten.
Das alles muss fachlich wie auch individuell entschieden werden, manche Menschen mögen keine Medikamenteneinnahme, und dann muss man es auch nicht machen. Erwiesen ist es, dass das richtige Medikament einen initialen Kick geben kann, sodass Patienten sich sofort besser fühlen. Damit sind zwar die Ursachen der depressiven Erkrankung noch nicht psychotherapeutisch bearbeitet, aber das bessere Fühlen kann nun einen „Engelskreis“ in Gang setzen.
Für alle drei Stufen aus dem Episodenbereich gilt immer noch: Es gibt einen Anfang und es gibt ein Ende, dadurch sind sie definiert und dadurch zeichnen sie sich aus.
Die Krise akzeptieren
Novemberblues und depressive Episoden, wie auch andere belastende Situationen, gehören zum Leben dazu. Wir Menschen erfahren im Leben Kontraste, es gehört zu unserer Natur, dass wir immer mal wieder durch solche Täler und Tiefen durchgehen, es ist ein Teil unseres Lebens. Wenn wir es dann geschafft haben und die Inhalte verarbeitet sind, können wir an den Krisen wachsen.
Deswegen ist es gut zu versuchen, solche Tiefen anzunehmen, denn was wir nicht akzeptieren, können wir auch nicht überwinden. Die Krise zu akzeptieren ist also immer der erste Schritt.
Eines der meistverbreiteten Missverständnisse über Depressionen ist, dass wir denken, die Depression hätte vor allem etwas mit bestimmten negativen Gefühlen zu tun. Doch es sind nicht die Gefühle selbst, die eine depressive Verstimmung bewirken, sondern es ist die Fixierung auf eine bestimmte Art von Verbindung zwischen dem, was wir fühlen und denken, und dem, was wir dann in unserem eigenen Selbstbild an Interpretationen vornehmen darüber, was das zu bedeuten hat. Die Schlussfolgerung daraus könnte lauten: Was eine negative, gedrückte Stimmung wirklich für uns bedeutet, das haben wir in den allermeisten Fällen selbst in der Hand – selbst wenn wir es nicht sofort merken.
Und manchmal reicht sogar ein spontaner Tapetenwechsel, um die Sonne wiederzufinden, so wie in einem Tal, in dem man untenstehend im düsteren Nebel versinkt, während vom Berggipfel aus betrachtet die Sonne lacht und der Blick auf die Wolkendecke in die Weite wie ein Versprechen ist, das einem sagt, dass es sich immer lohnt, sich auf den Weg zu machen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit dieser Sichtweise an Ihren nächsten Novemberblues herangehen können. Und vielleicht machen Ihnen dann auch diese zwei weiteren Strophen aus dem bereits zitierten Gedicht von Theodor Storm Mut:
Nur noch einmal bricht die Sonne
Unaufhaltsam durch den Duft,
Und ein Strahl der alten Wonne
Rieselt über Tal und Kluft.
Und es leuchten Wald und Heide,
Daß man sicher glauben mag,
Hinter allem Winterleide
Lieg' ein ferner Frühlingstag.