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Januar 2025

Rumsitzen mit sich selbst? Eine Alternative zu flüchtigen Neujahrsvorsätzen

Der Januar ist für viele von uns der Monat der guten Vorsätze für das neue Jahr: Weniger oder keinen Alkohol mehr trinken, nicht mehr rauchen, weniger und anderes essen, mehr Sport treiben, das sind die Klassiker, und viele ganz individuelle Vorsätze spielen auch noch eine Rolle.

Doch dieser Text erscheint in der zweiten Januar-Hälfte, und ich fürchte, bei Ihnen wie bei den meisten von uns ist nun schon das eingetreten, das untrennbar mit den guten Vorsätzen verbunden zu sein scheint: Wir halten selten wirklich das konsequent durch, was wir uns vorgenommen haben, sondern schon nach kurzer Zeit hat der Alltag mit seinen guten und schlechten Gewohnheiten erneut Oberhand gewonnen und die Vorsätze geraten wieder in Vergessenheit.

Für mich war dieser Jahreswechsel ganz anders als gewohnt, weil meine Mutter am 28. November gestorben ist (siehe meinen Dezember-Text). So war ich mit anderen Themen beschäftigt als damit, mir Vorsätze für 2025 auszudenken. Doch als ich im Dezember in einem Retreat etwas zur Ruhe kommen konnte, habe ich vor dem Hintergrund der starken Erschütterung, die der Tod meiner Mutter für mich bedeutet, eine Erfahrung gemacht, von der ich Ihnen heute erzählen möchte.

Vielleicht steckt darin ja sogar ein Alternativentwurf zu diesem ritualisierten Vornehmen und Vergessen der Vorsätze, die wir uns angewöhnt haben. Diese Alternative habe ich für mich etwas flapsig so benannt: Rumsitzen mit sich selbst ...

 

Das Hirn regelt selbst

In meinem Retreat, der zwei Wochen nach dem Tod meiner Mutter begann, war ich sehr viel mit mir allein und meditierte. Ich hatte mich diesmal entschlossen, in der Gruppe nur die Yogaeinheiten und die Meditation mitzumachen. Bei meinen Mahlzeiten und meinen Spaziergängen blieb ich allein, verzichtete also wirklich darauf, mich mit Gesprächen oder anderen gemeinsamen Aktivitäten von mir selbst abzulenken.

Und da machte ich eine für mich neue Erfahrung: Ich bekam in den ersten Tagen Schwindelzustände, wenn ich in den Mediationsübungen dasaß und die Augen zumachte. Kein Wunder, denn ich war in der Tiefe erschüttert, und es fühlte sich dazu passend auch so an, als wäre mein Hirn ein total aufgewühlter See. Ich hatte dadurch ganz andere Gedanken und Gefühle als sonst, und das hatte stark mit meiner Betroffenheit nach dem Tod meiner Mutter zu tun. Sonst hätte ich zu Beginn wohl eher ein mir vertrautes Alltagsgedanken-Chaos beim Meditieren im Kopf gehabt – doch diesmal war es tatsächlich völlig anders.

Zeitgleich spürte ich aber im ersten Impuls auch das starke Bedürfnis, mich von diesem Aufgewühltsein zu distanzieren. Ich wollte die Kontrolle zurück. Musste ich jetzt nicht überlegen, wie es denn weiterging und was ich in den nächsten Monaten alles machen musste? Was nun wichtig war, was zuerst kam und was als zweites usw. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, um wieder in die Spur und in meine kognitive Normalität zu kommen, was mir Kopfdruck bescherte und nur mäßig gelang.

Was ich aber total spannend fand und für mich ebenfalls eine ganz neue Erfahrung war: Nachdem es mir endlich gelungen war, im Laufe dieser Tage in den Meditationsübungen diese innere Bewegung nicht mehr negativ zu bewerten oder loswerden zu wollen, sondern es mehr und mehr schaffte, sie zuzulassen und zu beobachten, bekam ich das Gefühl: Da passiert etwas Gutes ohne mein Zutun. Mein Hirn regelt irgendwie selbst, wie sich alles neu formiert.

In dem, um in diesem Bild zu bleiben, vorher so aufgewühlten See befanden sich, als sich alles etwas gesetzt hatte, nun die Steine, Schwebestoffe und Wasserpflanzen an anderer Stelle als vorher. Die autonomen Bewegungen hatten andere Empfindungen und Gedanken in mir hervorgebracht, als ich sie sonst von mir kenne.

Ich machte die Erfahrung: Wenn ich es zulasse, dass mein Hirn ohne meinen kognitiv-steuernden Einfluss etwas selbst in Gang setzt, wenn ich also nicht der Versuchung nachgebe, alles gleich nach bisherigem Plan beeinflussen zu wollen, sondern in dieser Erfahrung mit mir ganz behutsam weitergehe, entwickeln sich neue Ideen und auch Prioritäten, angesichts derer auch das neue Jahr für mich vielleicht ganz andere Möglichkeiten als bisher bereithält.

Und ich verstand auch: Je mehr ich das alles ohne Steuerung zulasse, desto mehr Verbindung habe ich auf der seelischen Ebene zu mir selbst. Ich fühlte nach drei oder vier Tagen Retreat fast so etwas wie eine zärtliche Verbindung mit meinem Atem. Ich spürte: Ich kann mich darauf verlassen, dass etwas in mir selbst das Aufgewühlte ordnet, ohne dass ich das machen muss.

 

Bewertung und Vermeidung

In unserer Welt dreht sich so viel immer darum, wie wir mit etwas umgehen, mit dem wir konfrontiert sind, was es bedeutet und was wir als Konsequenz darauf tun sollen. Dieser andere Weg des Wahrnehmens, wie sich etwas von selbst in uns tut, war mir zwar als Theorie bekannt, aber als Erfahrung bis dahin noch unvertraut.

In einer Meditation wirklich präsent zu sein, gewahr zu sein, zu beobachten, ohne dass man wertet, sich dem Anker zuzuwenden, der in meinem Fall der Atem war, das ist mir natürlich ebenfalls alles lange bekannt. Aber ich habe gemerkt, dass auch ich, obwohl ich in diesen Dingen trainiert bin, unbewusst dazu tendiere, blitzschnell zu vermeiden, was mir Angst macht oder mich mit unangenehmen Empfindungen konfrontiert.

Die Vermeidung, verstand ich auf einmal, beginnt schon in der Bewertung. Ich hatte bisher gedacht, Bewertung sei das eine und Vermeidung das andere. Aber die Bewertung an sich ist schon ein Stück Distanzierung von der Empfindung, wie sie unmittelbar im Moment stattfindet. Ich schaue dann nicht mehr freundlich zu, nehme wahr, wie sich mein Geist gerade verhält und das Hirn dabei arbeitet, bin gespannt und denke interessiert: ‚Oh, das ist aber hier aufwühlend, mal sehen, was als nächstes passiert.‘ Sondern ich will, dass es aufhört, weil es mir so unangenehm ist.

Aber je mehr es mir gelingt, mich der Tatsache, dass mein Geist aktiv ist, ohne Wertung hinzugeben, desto umfassender ist diese Veränderung. Das fand ich sehr tiefgreifend und berührend. Und ich nahm mir dann vor, diese Übungen auch nach dem Retreat weiter zu pflegen. Die Erfahrung, wie sich mein Alltag dann mit seinen Denkmustern und mit den Gewohnheiten, wie ich Dinge bewerte, ganz schnell wieder zurückmeldete, zeigte mir, wie wichtig das ist.  

 

Bedürfnisse und Ablenkungen

Ich erzähle Ihnen das alles heute, weil ich es gerade am Beginn eines neuen Jahres besonders bemerkenswert finde, dass sich manchmal etwas völlig Neues durch Nichtstun auftun kann. Und das ist etwas ganz anderes als unsere Silvestergewohnheit, uns mit den guten Vorsätzen fürs neue Jahr ein Aktionsprogramm aufzuerlegen. Wir nehmen uns dann vor, bestimmte Dinge anders zu machen, weil wir sie schon lange vorgehabt und es bisher nicht geschafft haben, sie umzusetzen.

Doch so klappt das in der Regel eben auch im neuen Jahr nicht. Und dafür muss es ja einen Grund geben. Eine These könnte sein, dass wir beim Schmieden der Vorsätze etwas Wichtiges nicht berücksichtigen: nämlich das, was in unserem tiefen Inneren an Bedürfnissen und Empfindungen vorhanden ist, die hinter unseren Vorsätzen liegen, die uns aber oft gar nicht bekannt sind.

Wenn wir uns selbst einfach einen konkreten Vorsatz vorsetzen, kann das nun dazu führen, dass es uns davon ablenkt, dem dahinterliegenden Bedürfnis wirklich nachzuspüren, ihm Raum zu geben, statt es durch Aktivismus gleich wieder zu instrumentalisieren. Eine Leere auszuhalten, statt sie sofort wieder mit etwas zu füllen, was uns im Moment entlastet, aber auf Dauer gar keinen Erfolg bringt.   

Ich denke da zum Beispiel an einen emeritierten Professor, der mir vor einiger Zeit einmal erzählte, er wolle im neuen Jahr einen Marathon laufen und dafür nun zu trainieren beginnen. Die Trainingseinheiten liefen gemischt – phasenweise kam er seinen Leistungszielen nah, doch oft fühlte er sich wenig motiviert, manchmal kraftlos. Schließlich entschied er sich aufgrund einer Erkältung kurz vor dem Termin gegen seine Teilnahme.

Nehmen wir nun einfach einmal an, dass hinter seiner Marathon-Idee ein tiefer liegendes Bedürfnis steckte: nämlich sich angesichts einer in dieser Lebensphase nicht ungewöhnlichen Verunsicherung über seine Attraktivität und Kraft der eigenen Position als Mann zu vergewissern. In der Vergangenheit ist er einige Marathons erfolgreich gelaufen, die ihn damals in seinem Männlichkeitsgefühl bestärkt haben.

Der Irrtum in diesem Vorsatz könnte dann nun darin liegen, sich etwas vorzunehmen, was früher funktioniert hat, und zu denken, das müsste nun genauso wieder funktionieren. Dann ist es aber womöglich doch nicht so: Er trainiert, stellt dann aber fest, dass die Beine wehtun oder der Kreislauf nicht mitmacht oder etwas anderes. Möglicherweise stellt sich heraus, dass er keinen Marathon mehr laufen kann. Das muss aber nicht bedeuten, dass das dahinter liegende tiefere Bedürfnis, nämlich als kraftvoller Mann in der Welt zu sein, in seiner jetzigen Lebensphase nicht befriedigt werden kann. Doch das kann er durch den Aktionsplan „Marathon laufen“ nicht herausfinden, denn der greift zu kurz, weil er sein eigentliches Bedürfnis nur eingeschränkt abbildet.

In dem Moment aber, wo er in der Stille sitzen und einige Zeit wahrnehmend mit sich selbst verbringen würde, ohne dass er direkt irgendetwas mit dem machte, was ihm da begegnet, könnten sich neue Räume für ihn auftun.

Oder ein anderes Beispiel: Stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich einsam fühlt. Schnell  nimmt er sich für das neue Jahr vor, in einen Wanderklub zu gehen oder eine Anzeige in der Stammtischbörse zu setzen. Aber das nimmt er sich nur vor und macht es dann zu Beginn des Jahres doch nicht.

Warum nicht? Weil zwischen dem, was ihm fehlt, wenn er sich einsam fühlt, und dem, was er eigentlich erreichen will, ein riesiger Raum liegt, der ihm weitestgehend unbekannt ist. Er kann nicht weiterkommen, weil er nicht merkt, dass seine Vorsätze nur Teil einer ihm unbewussten Strategie sind, die Beschäftigung mit seinem Bedürfnis und den dazugehörigen Gefühlen, Gedanken und Empfindungen zu vermeiden.

 

Gefühle verwandeln sich

Wenn Sie also eine innere Unruhe verspüren, wegen der Sie nachts aufwachen oder Kreislaufprobleme entwickeln, dann könnte es sein, dass etwas Unentdecktes in Ihrem inneren System herumwabert, das Sie bisher nicht zuordnen können. Und weil Sie es nicht wirklich kennen, entwickelt es möglicherweise ein Eigenleben.

Dann ist mein Impuls für Sie zum neuen Jahr: Verbringen Sie etwas Zeit mit Ihrer Unruhe. Egal, ob Sie sie nun einer konkreten Erfahrung zuordnen können, wie ich nach dem Tod meiner Mutter, oder ob sie Ihnen eher diffus erscheint. Sie können sie besser wahrnehmen, wenn Sie sich nicht inhaltlich darin vertiefen, denn dadurch projizieren Sie schon wieder andere Themen hinein. Geben Sie ihr Raum. Es kann gut sein, dass dann die Unruhe zunächst noch stärker wird. Aber dann löst sie sich ohne Ihr Zutun irgendwann auf und ist weg oder es zeigt sich klarer das dahinter liegende Thema. Solch eine Erfahrung zu machen ist wahnsinnig kostbar. Dafür müssen Sie keinen Marathon laufen, sich auch nicht im Fitnessstudio oder im Wanderklub anmelden.

Eine Eigenart von Gefühlen ist: Wenn Sie mit ihnen Zeit verbringen, ohne dass Sie sie ablehnen oder sich hineinsteigern, verändern sie sich meist von selbst, sie haben eine Tendenz, sich zu verwandeln. Gefühle sind wie Wellen: Sie können sich ihnen entgegenstellen und davon umwerfen lassen, oder sie lassen sich mit ihnen treiben, bis sie schließlich auslaufen.

In gewisser Weise läuft das, was ich Ihnen heute mitgeben will, doch wieder auf einen möglichen Vorsatz hinaus: Nämlich den, mit dem Meditieren zu beginnen. In einer Meditation können wir mehr darüber lernen, was unsere tiefer liegenden Bedürfnisse wirklich sind, was wir eigentlich brauchen und wollen. Wir können uns dabei selbst besser kennenlernen. Locker gesagt ist so eine Meditation nichts anderes als ein Rumsitzen mit sich selbst. Und dabei nicht schlafen, nicht dümpeln, nicht dösen, sondern wach sein, nichts anderes durchdenken oder analysieren, sondern einfach zu erfahren, wie es ist, mit sich selbst etwas Zeit zu verbringen – sitzend, ohne Ablenkung und in Stille.

Und wenn Sie sich jetzt fragen: Ja, aber kann ich denn das Meditieren erlernen? Kann ich das allein, brauche ich dafür Anleitung, muss ich dafür in eine Gruppe gehen? Dann freuen Sie sich auf den Blogtext im kommenden Monat: In ihm werde ich darauf näher eingehen.