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September 2024

Ich bin, weil du bist

„Danke, ich schaff‘ das schon allein!“ Der ältere Herr, dem ich beim Aussteigen aus dem Bus meine Hilfe anbieten wollte, wehrte etwas mürrisch ab. Ich fand das schade, denn ich sah, wie er sich abmühte. Doch er verhielt sich so, wie es viele Menschen in unserer individualistischen Gesellschaft tun: so wenig Unterstützung wie möglich von außen in Anspruch nehmen, anderen bloß nicht zur Last fallen, sich allein durchbeißen.

Ich kenne das sogar von mir selbst, auch ich habe wie die meisten von uns diese Maxime bewusst oder unbewusst, mehr oder weniger verinnerlicht: Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner! Wir denken, das würde von uns so erwartet, und oft wird es das auch wirklich, und wenn wir ehrlich sind, erwarten wir es umgekehrt zuweilen auch von unseren Mitmenschen.

Tatsächlich ist es ja auch eine wichtige und stärkende Erfahrung, wenn wir uns selbst mal am Schopf gepackt und aus dem Sumpf einer schwierigen Situation oder Herausforderung herausziehen konnten. Aber zum einen ist das nicht immer möglich, und zum anderen ist die Erfahrung, anderen helfen zu können oder von ihnen Hilfe zu erhalten, oft noch viel beglückender.

Eine Kehrseite unserer von Individualismus geprägten Gesellschaft ist zudem: Neuen Analysen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zufolge fühlt sich heute jeder Dritte zwischen 18 und 53 Jahren zumindest teilweise einsam, zuletzt mit deutlich steigender Tendenz. Dabei ist Einsamkeit nicht nur bei älteren Menschen, sondern seit der Covid-Pandemie auch bei jüngeren Erwachsenen unter 30 Jahren weit verbreitet. Wir wollen so viel wie möglich allein und individuell schaffen, aber wir leiden zugleich unter dem Alleinsein.

Als ich dem älteren Herrn noch einmal nachsah, wie er sich langsam schweren Schrittes entfernte, nahm ich mir vor, Ihnen hier heute etwas über die Fähigkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen, zu schreiben –  als notwendige Ergänzung dessen, worüber ich hier in den vergangenen Monaten in meinem Blog geschrieben habe.

 

Manchmal brauchen wir Hilfe

Denn seit dem letzten Herbst habe Ihnen immer mal wieder von den Ressourcen erzählt, die wir in uns tragen und auf die wir zurückgreifen können, wenn uns Probleme belasten: Kraft, Lebensfreude, Hoffnung, Leichtigkeit, Ruhe, Gelassenheit, Vertrauen – und auch die jeweilige Balance der Ressourcen Loslassen und Durchhalten, Mut und Verletzlichkeit sowie Mut und Bequemlichkeit.

In meinem letzten Blogtext im vorigen Monat habe ich Ihnen in diesem Zusammenhang außerdem vom Schlüssel-/Schloss-Prinzip erzählt. Die Metapher, die in diesem Begriff verwendet wird, steht für die ermutigende Erkenntnis, dass es für jedes (Problem-)Schloss einen passenden (Ressourcen-) Schlüssel gibt.  

Alle Ressourcen, über die ich hier geschrieben habe, haben gemeinsam, dass sie in uns bereit liegen und wir sie für uns erschließen können, wenn wir in uns hineinhorchen. Nach der Begegnung mit dem meine Hilfe abweisenden Mann aber wurde mir klar, dass dieser Blick auf die Ressourcen auch zu einem Missverständnis führen könnte: dass es nämlich für uns im Umgang mit Problemen immer darum ginge, eine Lösung aus uns selbst heraus zu finden.

Wenn dem so wäre, würde das natürlich zu der von mir zu Beginn beschriebenen, in unserer heutigen Welt weit verbreiteten Sichtweise passen: Wir helfen uns selbst, wir brauchen niemand anderen, wir wollen immer stark, immer kompetent sein, immer wissen, wie wir unsere Probleme lösen können – und welches jeweils der passende Schlüssel für das Schloss ist, das uns gerade den Weg versperrt.

Oft reicht das tatsächlich aus, aber bei Weitem nicht immer: Wir alle kennen Situationen, in denen wir für uns selbst erkennen, dass wir Hilfe brauchen, und diese dann auch suchen und annehmen müssen.

Und das hat mit einer Ressource zu tun, die ich bisher nicht erwähnt habe, die aber mindestens genauso wichtig ist wie die anderen Ressourcen. Nur liegt sie nicht allein in unserem Inneren, sondern hat mit der Außenwelt um uns herum zu tun. Es ist die Ressource, dass wir für uns selbst erkennen können, wenn wir alleine nicht mehr weiterkommen und Hilfe von außen benötigen.

 

Ich bin nicht allein

Wir müssen es nicht alleine schaffen. Ein Satz von Melanie Beattie aus ihrem Buch „Kraft zum Loslassen“ ist einer von denen, die einen durchs Leben begleiten können, und auch mir klingt er schon seit einer ganzen Weile immer einmal wieder in den Ohren: „Asterix hatte Obelix, Hänsel hatte Gretel, Romeo hatte Julia, John Wayne hatte sein Pferd, und wir haben uns.“ Natürlich gibt es Dinge, die wir alleine schaffen wollen, und es ist wichtig, dass wir uns das dann bewusst machen. Aber umgekehrt sollten wir uns nicht scheuen, Hilfe zu suchen und anzunehmen, wenn wir alleine mit einem Problem nicht weiterkommen. Das gehört zum Leben dazu, und dann lösen wir es eben gemeinsam.

Wir merken dann: „Mensch, ich bin ja gar nicht allein!“ Und dass es ganz natürlich ist, einander zu brauchen. Doch wenn ich Ihnen davon erzähle, geht es mir gar nicht hauptsächlich um das „Brauchen“ im Sinne von: Ich habe ein Bedürfnis, und es gibt andere, die mir das geben können, was ich nicht habe oder nicht kann.

Für mich steht das in einem größeren Zusammenhang: Denn wir Menschen sind Herdentiere, wir sind eigentlich gar nicht dafür gemacht, Dinge allein zu tun. Wir brauchen nicht primär die jeweilige Hilfe, sondern wir brauchen einander.

Deswegen geht es, wenn wir in Beziehung miteinander treten, im Kern nicht um einen bestimmten Zweck oder ein Ziel, sondern um viel mehr. Wir Menschen brauchen neben der bewussten Wahrnehmung unserer selbst und der Wohltat, unsere Stärken in eigenen Handlungen zu verwirklichen, einfach auch den Bezug auf etwas außerhalb unserer selbst.

Anders gesagt: Es ist für uns Menschen wichtig, etwas zum großen Ganzen beizutragen. Dabei ist es für unsere individuelle Lebensfreude nicht entscheidend, ob unser Beitrag spektakulär oder bahnbrechend ist. Es geht darum, die eigene Wirksamkeit und die Notwendigkeit seines Daseins im eigenen Umfeld zu empfinden. Aus der Glücksforschung der Positiven Psychologie wissen wir auch, dass die individuelle Lebensfreude sich weiter ausbreitet mit dem Gefühl, gebraucht zu werden. Das ist wichtiger als das eigene Brauchen.

 

We are Ubuntu

Die Voraussetzung dafür, dass wir Menschen miteinander in Beziehung treten, ist: Jede und jeder von uns ist einzigartig, und als solch einzigartiges Geschöpf kann jede und jeder etwas in die Gemeinschaft hineingeben. Ich selbst empfinde es als besonders schön, wenn meine Gabe dadurch versüßt wird, mich an dem zu freuen, was ich tue – und ich damit zusätzlich zur Gabe selbst auch meine Freude an die mich umgebenden Menschen und Tiere verschenken kann.

Das verbinde ich mit der Lebensphilosophie von Ubuntu, über die ich auch in meinem Buch „Schildkröte sucht Schneekristall. Wie wir Leben neu entdecken“ geschrieben habe. Sie ist eine meiner Lieblingsphilosophien. Der Begriff Ubuntu geht auf den Satz „umuntu ngumuntu ngabantu“ zurück, der so viel heißt wie: „Eine Person ist eine Person durch andere Personen”. Oder kurz: „Ich bin, weil du bist“.

Mein Lebensfreund und früherer Mentor, der großartige Psychiater, Facharzt für Psychoneuroimmunologie und Heiler Carl Hammerschlag, von dem ich Ihnen hier im Blog schon einmal erzählt habe, hatte, nachdem ich ihn 2003/04 in meinem Sabbatjahr in der Milton Erickson Foundation in Phoenix kennengelernt hatte, oft zu mir gesagt: „I am because you are. We are Ubuntu." Aber damals wusste ich noch nicht, was es bedeutet, und ich machte mir zu Anfang auch keine großen Gedanken darüber. Ich ließ das erstmal so stehen und mochte das Gefühl, weil das noch Fremde für mich auch irgendwie verheißungsvoll klang.

Ich fühlte in seinem Satz „we are Ubuntu“, dass unser Aufeinander-Bezogen-Sein und die Verbindung unserer Herzen ganz fraglos waren und jeder von uns in allen Lebenslagen auch immer wieder den Anderen im Blick hatte.

 

Eine universale Wahrheit

Erst später konnte ich auf einer Konferenz in Pretoria innerlich den vollen Bezug herstellen, als das Wort Ubuntu im Programm auftauchte und ich einen Professor kennenlernte, der sich mit diesem Konzept seit Jahrzehnten beschäftigte. Da musste ich über mich selbst lachen und verstand in diesem Moment zum ersten Mal, dass es sich bei Ubuntu nicht um Carls selbst kreierte Wortschöpfung für unsere tiefe Verbindung handelte. Er hatte sie nur auf uns angewandt.

Bei Ubuntu handelt es sich um eine afrikanische Tradition, Philosophie und Spiritualität, die im modernen Südafrika seit 1994 nach den ersten demokratischen Wahlen ihren festen Platz als Leitfaden menschlicher Grundwerte bekommen hat.

Nelson Mandela, der auf der ganzen Welt als Symbol für Toleranz und Menschlichkeit gilt und die afrikanische Tradition von Ubuntu selbst verkörpert, hat in einem Interview auf die Frage, was für ihn Ubuntu sei, sinngemäß folgendes gesagt: „Ubuntu ist eine universale Wahrheit, es ist eine Lebenshaltung und es untermauert das Konzept einer offenen Gesellschaft.“

Als Beispiel für die gesellschaftliche Ausprägung von Ubuntu beschreibt er die afrikanische Gastfreundschaft: „In den alten Tagen, als wir jung waren, wenn da ein Reisender durch unser Land kam und auf seinem Weg in einem Dorf Station machte, dann brauchte er nicht zu fragen, ob er etwas zu essen oder Wasser bekommen könnte. Im Augenblick seiner Ankunft geben ihm die Menschen eine Mahlzeit, schenken ihm ihre Aufmerksamkeit. Sie kümmern sich um seine Unterhaltung, sorgen dafür, dass er Ansprache hat ... Das ist zum Beispiel ein Aspekt von Ubuntu.“

 

Wir sind alle verbunden

Aber Ubuntu hat verschiedene Bedeutungen. Es beinhaltet in einem einzigen Wort einen ganzen Strauß unterschiedlicher Aspekte zum Thema Menschlichkeit und Menschenliebe.

Es bedeutet Respekt, Zuwendung, Hilfsbereitschaft, in der Verbundenheit etwas zu teilen, Gemeinschaft, Fürsorge, Vertrauen, Uneigennützigkeit ... all die verschiedenen Ebenen und Ausprägungen der Liebe zwischen den Menschen. Das alles ist der Geist von Ubuntu. Ubuntu bedeutet aber auch, dass sich die Menschen gleichzeitig auf sich selbst beziehen und für ihre eigenen Belange als Menschen einsetzen sollen.

Der südafrikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu sah Ubuntu folgendermaßen:

„Ubuntu – das bedeutet so viel wie Menschlichkeit. Insbesondere meint Ubuntu, dass der Mensch nicht in Isolation leben kann. In dem Wort steckt etwas von Vernetzung. Als Mensch kann man nicht nur für sich leben. Und wenn man diese Gabe, nämlich Ubuntu hat, dann ist man bekannt für seine Großzügigkeit. Viel zu oft sehen wir uns nur als Individuen, die getrennt voneinander leben. Dabei sind wir alle verbunden und was ein Einzelner tut, betrifft die ganze Welt. Wennman seine Sache gut macht, dann breitet sich das auf die gesamte Menschheit aus …“

Als ich die Worte des Erzbischofs zum ersten Mal las, erinnerten sie mich auch wieder an Hozho, wie die Navajo, das größte der indigenen Völker in den Vereinigten Staaten, den Weg der Schönheit bezeichnen, über den ich hier im Blog auch schon geschrieben habe, und die dort angelegte Sichtweise auf das Leben als Zyklus. Der Austausch mit anderen, aufzunehmen, zu verarbeiten, damit zu gestalten und wieder auszutauschen ist die Basis und der Motor unserer Existenz. Ohne Vernetzung sind wir nicht denkbar.
 

Ich habe dich gehört

Für mich selbst empfinde ich es als erstrebenswert, außerhalb des eigenen Egos, in einer Gemeinschaft durch etwas Gemeinsames verbunden zu leben (was immer das Verbindende sein mag). Das ist, auch wenn es nicht leicht umsetzbar erscheint, immer ein Teil unserer Lebensrealität, weil wir Menschen uns alle als Teile von Systemen permanent gegenseitig beeinflussen, das heißt, in jedem Fall miteinander verbunden sind.

Ob wir es uns vornehmen oder nicht: Wir können nichts tun, ohne dass es sich irgendwie auf andere Menschen, unsere Umgebung und uns selbst auswirkt. Aber: Wir können unser Verbundensein tatsächlich unterschiedlich bewusst wahrnehmen, definieren und aktiv gestalten – zum Beispiel unsere Beziehungen und unsere gegenseitigen Bewertungen. Diese bewusste Gestaltung sollte unser Ziel sein.

Wir sehen zum Beispiel unser Gegenüber durch die Brille der Idealisierung: Schon haben wir sie oder ihn auf einen Sockel gestellt und finden in ihr oder ihm bewundernswerte Eigenschaften, denen wir nacheifern können. Oder wir treten im Gegenteil ganz abgegrenzt innerlich einen Schritt zurück und dann – „One-step-up“ – einen nach oben: Dann sehen und wissen wir mehr als die andere Person oder glauben es zumindest. Last but not least können wir ebenso auf Augenhöhe – offen für Austausch – in Verbindung stehen; mit anderen Menschen in unserer vertrauten Gemeinschaft, mit Fremden und natürlich auch mit unserer Umwelt.

Aufmerksam und zugewandt, also wohlwollend miteinander zu kommunizieren, ist definitiv meine persönliche Lieblingsvariante – und übrigens in der Psychotherapie und im Coaching eine der wichtigsten Komponenten für eine heilsame mitmenschliche Erfahrung zur Bewältigung vergangenen Leids.

Was aber nicht heißt, dass ich selbst generell niemals „vorab“ bewerte – aber sobald ich mir darüber im Klaren bin, dass ich ein Vorurteil pflege, kann ich meine „Vorurteil-Brille“ zugunsten der „Augenhöhe-Brille“ wechseln und mich im Bewusstsein des geteilten Mensch-Seins für eine reale Erfahrung mit einem anderen Menschen oder einer Gruppe von Menschen entscheiden.

Wenn wir immer schon vorhersehen könnten, was die anderen sagen, wäre das ja langweilig. Und selbst, wenn wir von anderen das bekommen, was wir haben wollen, entwickeln wir uns darin nicht weiter. Der Zauber des Miteinanders liegt in der gegenseitigen Überraschung, die zum Wachstum von allen führt, die daran teilhaben

„Mi takuye Oyacin“ – so lautet eine indigene Grußformel, die – ursprünglich geprägt durch die Lakota, ein Volk der Sioux – eben diese Zusammenhänge wertschätzend ausdrückt: „Ich sage das für alle meine Verwandten“. Bei einer persönlichen Äußerung innerhalb eines Redekreises einer Gruppe wird sie zum Abschluss ausgesprochen und damit in die Runde der Zuhörer gegeben.

Das Gesagte ist eben nicht nur für den Sprechenden wichtig, sondern ebenso für die Zuhörenden. Die Zuhörer antworten daher mit „Aho“, was so viel bedeutet wie: „Ich habe dich gehört“ oder: „Ich habe dir zugehört.“ So ist die Verbindung zwischen den Menschen bereits in der Sprache sichtbar und fühlbar. Das Leben miteinander fühlt sich gut an, und (alte) Wunden können besser heilen.

Ich wünsche dem älteren Herrn, der meine Hilfe nicht brauchte, und Ihnen allen, dass Sie, auch wenn Sie etwas auch allein schaffen können und eine Hilfe nicht brauchen – und erst recht, wenn Sie sie doch brauchen – in der Verbindung mit anderen Menschen die wunderbare Erfahrung machen können.