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Die Schildkröte, der Hase und die Moral von der Geschichte

Im Sommer hatte ich Ihnen von meinem Gespräch mit der Schildkröte erzählt, in der es um eine Geschichte aus Afrika gegangen war, die ich in meinem Buchregal gefunden hatte. Sie handelte davon, wie die Schildkröte und überhaupt alle Tiere zu ihren Schwänzen gekommen sind.

Am Ende hatte die Schildkröte, angeregt von diesem Gespräch, gemeint, sie habe auch mal von einer Geschichte von einer Schildkröte und einem Hasen gehört. Ob ich die kennen würde?

„Ja“, hatte ich geantwortet, „diese Fabel habe ich auch irgendwo in meinem Bücherregal. Ich werde danach schauen, und wenn du das nächste Mal kommst, können wir sie uns gemeinsam anschauen.“

Ich musste etwas suchen, aber dann fand ich die Geschichte tatsächlich in einem Band mit den vielen Fabeln des antiken griechischen Dichters Äsop aus dem 6. Jahrhundert v. Chr.

Nun wartete ich nur noch auf die Schildkröte, und vor ein paar Tagen kam sie tatsächlich gemessenen Schrittes wieder einmal zu mir in mein Arbeitszimmer und fragte, ob ich die Fabel gefunden hätte?

So begann ein denkwürdiges Gespräch, das mich lehrte, wie auch eine Geschichte, die ich doch gut zu kennen meine, im Dialog mit einer Schildkröte eine ganz neue Bedeutung finden kann ...

 

Schnell oder langsam

„Weißt du was“, schlug ich der Schildkröte vor, „ich lese dir die Fabel einfach mal vor. Sie ist ganz kurz, eine alte Übersetzung des Textes, wie ihn der Dichter Äsop vor sehr langer Zeit geschrieben hat. Deswegen hat sie auch eine etwas altmodische Sprache, aber ich finde, man kann sie dennoch gut verstehen. Was hältst du davon?“

„Ja, das ist eine schöne Idee“, meinte die Schildkröte, machte es sich erwartungsvoll bequem und schloss die Augen.

Ich nahm also das Buch in die Hand und begann zu lesen:

„Eine Schildkröte, wegen ihrer Langsamkeit von einem Hasen gehöhnt, wagte es doch, ihn zu einem Wettlauf herauszufordern, den er auch, mehr aus Scherz als aus Prahlerei, annahm. Der Tag des Wettlaufs kam; das Ziel wird bestimmt, beide betreten in dem nämlichen Augenblick die Bahn.

Die Schildkröte kriecht langsam, jedoch unermüdlich fort: der Hase legt sich, um den Hohn gegen die Schildkröte aufs höchste zu treiben, nach unendlich vielen Seitensprüngen, nur noch wenige Schritte vom Ziele entfernt, in das Gras nieder und schläft aus Mattigkeit ein, bis er durch der Zuschauer lauten Jubel geweckt, die Schildkröte bereits oben an dem Ziel erblickt.

Schon sah er sie zurückkehren, ging aber aus Scham auf die Seite und gestand frei: in seinem zu großen Vertrauen auf seine Behendigkeit habe ihn das langsamste Tier von der Welt beschämt.“

Einen Moment schwieg die Schildkröte, dann fragte sie: „Das langsamste Tier der Welt, stimmt das wirklich? Ich habe in deinem Garten mal einer Schnecke zugesehen, die schien aber noch einmal deutlich langsamer.“

„Ja, da hast du recht, liebe Schildkröte, die ist deutlich langsamer, und das langsamste Tier soll das Zwerg-Seepferdchen sein, wie ich mal gelesen habe.“

„Alles schön und gut“, brummte die Schildkröte, „aber was soll das überhaupt mit solchen Rekorden? Welche Rolle spielt es, ob ein Tier schnell oder langsam ist? Ihr Menschen interessiert euch schon für sehr merkwürdige Dinge!“

 

Flatterhaft oder fleißig

„Nun“, versuchte ich sie zu beschwichtigen, „um die Schnelligkeit oder Langsamkeit geht es in dieser Fabel auch gar nicht in erster Linie. So eine Fabel hat immer eine sogenannte Moral, also eine Erkenntnis, die wir als Leser daraus ziehen können. Hier hat Äsop der Fabel auch eine solche Moral nachgestellt, die ich dir noch gar nicht vorgelesen habe. Sie lautet:

Oft werden gute, aber flatterhafte Köpfe von mittelmäßigen, aber anhaltend fleißigen, eingeholt, ja übertroffen.

Laut dieser Moral geht es also in dieser Fabel um die Flatterhaftigkeit des Hasen, mit der er sich in seinen Fähigkeiten selbst im Wege steht und die vom Fleiß der Schildkröte übertroffen wird, die damit ihre Langsamkeit ausgleichen kann.“

Die Schildkröte schaute mich durchdringend an und meinte: „Wie höflich von dir, dass du das Wort ‚mittelmäßig‘ in deiner Erklärung nicht verwendet hast, aber ich kann damit gut leben. Ich muss überhaupt nicht besser sein als andere, ich will einfach nur eine Schildkröte sein und als solche respektiert werden, ohne Vergleiche mit anderen Tieren. Wenn das dieses ‚Mittelmaß‘ bedeutet, warum nicht? Da finde ich das mit der ‚Flatterhaftigkeit‘ viel fragwürdiger!“

„Wie meinst du das“, fragte ich erstaunt nach. „Verhält der Hase in der Fabel sich nicht tatsächlich etwas leichtfertig und inkonsequent?“

„Ja, das könnte man meinen“, nickte die Schildkröte, „aber der Hase nimmt diesen Wettstreit wohl einfach nicht so ernst, er macht sich einen Spaß daraus, während die Schildkröte sich verbissen abmüht, um als erste ins Ziel zu kommen. Ehrlich gesagt, finde ich das Verhalten meiner Artgenossin in der Fabel so gesehen fast etwas alberner als das des Hasen.“

 

Übermut oder Weile

Ich musste laut lachen. „Liebe Schildkröte, du überraschst mich wirklich immer wieder. Aber ich glaube, ich kann nachvollziehen, was du meinst. Die Moral der Fabel, wie ich sie dir vorgelesen habe, lässt sich in dem bei uns Menschen sehr beliebten Sprichwort ‚Übermut tut selten gut‘ zusammenfassen. Da ist zwar schon etwas Wahres dran, weil wir Menschen es uns manchmal durch Übermut ungewollt schwer machen, das zu erreichen, was wir uns vorgenommen haben.“

Ich unterbrach und stand auf, weil die Katze vor der Terrassentür stand und den Eindruck erweckte, hinein zu wollen. Doch als ich öffnete, blieb sie draußen stehen und tat so, als hätte sie überhaupt kein Interesse am Hineinkommen, an mir oder gar der Schildkröte. So wartete ich einen kleinen Moment, schloss die Tür seufzend und setzte mich wieder.

„Aber“, fuhr ich fort, „das Sprichwort kann auch leicht falsch verstanden werden, als sei Leichtigkeit im Leben irgendwie überflüssig, und man solle sich gar nicht freuen und hüpfen und Spaß haben, weil dann schnell alles schief geht. Das wäre ja eigentlich eine ganz traurige und viel zu verkrampfte Moral, die jeglicher Lebendigkeit entgegenstünde. Als wenn wir Menschen immer alle bierernst durchs Leben laufen müssten ...“

„Bierernst?“, staunte die Schildkröte, „das ist ja ein merkwürdiger Begriff. Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass dieses Bier euch Menschen zu besonderer Ernsthaftigkeit verhilft!“

„Ja, das ist wirklich ein komisches Wort. Es kommt angeblich daher, dass es früher hieß, das Trinken von Wein mache fröhlich, Bier hingegen stimme jemanden ernst. Ich glaube aber gar nicht, dass das so stimmt, Alkohol wirkt je nach Situation und Veranlagung ganz unterschiedlich.“

„Auf jeden Fall riecht alles mit diesem Alkohol für mich sehr unangenehm“, meinte die Schildkröte, „und wenn viele von euch Menschen meinen, den für etwas mehr Leichtigkeit zu brauchen, dann ist das wirklich traurig.“

„Da hast du recht, liebe Schildkröte,“ nickte ich. „Aber lass uns zur Geschichte zurückkommen. Ich habe gelesen, dass sich bei der Interpretation dieser Fabel über die Jahrhunderte hinweg eine andere Moral in den Vordergrund geschoben hat. Auch dafür gibt es so ein Menschensprichwort, das heißt „Eile mit Weile“. Es meint, dass wir uns für wichtige Entscheidungen oder Ziele auch unter Druck ausreichend Zeit nehmen sollen, um durch bedachtes Handeln Fehler zu vermeiden und somit erfolgreich zu sein. Andere Sprichwörter wie ‚Gut Ding braucht Weile‘, ‚Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut“ oder „In der Ruhe liegt die Kraft“ meinen etwas Ähnliches.“

 

Jedem seine eigene Mischung

„So viele verschiedene Sprichwörter für etwas, was euch Menschen doch eigentlich sehr schwerfällt“, staunte die Schildkröte. „Wahrscheinlich ist das genau der Grund: Ihr braucht all diese Sprüche, um euch das einzuprägen, was ihr so leicht vergesst. Aber ich weiß auch gar nicht, ob das auf die Fabel wirklich so passt. Die Schildkröte hat einfach nur Glück gehabt, dass der Hase es nicht so ernst genommen hat und auch nicht früher wach geworden ist.“

Sie schwieg einen Moment und schien nachzudenken, dann fuhr sie fort: „Aber vielleicht wollte die Schildkröte in der Fabel ja auch überhaupt nicht wirklich gewinnen. Das sind so Kategorien von euch Menschen. Wer weiß, die ist möglicherweise einfach nur ihren Weg gegangen und hat sich um den Hasen gar nicht weiter gekümmert, und dieser Äsop hat dann da so eine typische Menschengeschichte daraus gemacht, die mit uns Tieren gar nicht viel zu tun hat.“

„Fabeln sind wirklich“, stimmte ich ihr zu, „eher Geschichten über menschliches als über tierisches Verhalten. Äsop hat das nur in diese Tiergeschichte verpackt, weil wir Menschen sie so leichter verstehen und annehmen können. Wahrscheinlich geht es in Wahrheit auch gar nicht um die eine oder die andere Moral, sondern interessant ist das Zusammenspiel von beiden: Ein bisschen mehr Leichtigkeit täte vielen Menschen gut, aber zu viel davon kann vielleicht auch zum Problem werden. Umgekehrt ist bedachtes Handeln bestimmt oft besser als unbedachtes, aber manchmal ist es auch sinnvoll, einfach mal etwas spontan ohne großes Nachdenken zu tun.“

Die Schildröte sinnierte über das, was ich da gesagt hatte, und blieb lange still. Dann hob sie den Kopf und sagte: „Ja, das gefällt mir schon besser als diese einseitigen und belehrenden Moral-Sprichworte. Jeder kann doch bei sich selbst schauen, wovon er ein bisschen mehr brauchen könnte, von der Spontaneität und Leichtigkeit oder von der Ruhe und Überlegtheit. Jeder kann sich da ja seine eigene Mischung zusammenstellen. Das ist bestimmt auch nicht immer gleich, sondern von der Situation abhängig. Ihr Menschen wollt immer alles gleich in Lehren und Wahrheiten verpacken, das ist uns Schildkröten und überhaupt uns Tieren völlig fremd. Ich gebe zu, manchmal wäre ich auch gerne ein bisschen schneller, und manch ein Hase wäre vielleicht manchmal gerne etwas ruhiger, aber wir machen da kein so großes Ding draus, es ist, wie es ist. Mir scheint: Zu viel von diesem Moralgerede tut euch Menschen selten gut. Hört einfach mehr in euch hinein, dann wisst ihr schon, was für euch und auch für alle Menschen und Tiere um euch herum gut ist.“

Nach diesem Monolog wirkte die Schildköte erschöpft, sie gähnte und machte sich wieder auf. Auf der Terrasse stand immer noch die  Katze mit vorwurfsvollem Blick, ich öffnete die Türe wieder, und diesmal kam sie herein und die Schildkröte schritt heraus – ohne dass sich die beiden auch nur eines Blickes würdigten.