Wie die Schildkröte zu ihrem Schwanz kam
Vor ein paar Tagen war meine Schildkröte, die ich einige Wochen nicht gesehen hatte, auf einmal wieder da. Bedächtig näherte sie sich eines Morgens quer durch mein Arbeitszimmer meinem Schreibtisch und verharrte dann dort einige Zeit bewegungslos, ihren Blick auf mich gerichtet.
„Meine liebe Schildkröte“, rief ich, „das ist aber schön, dass du mich endlich mal wieder besuchen kommst. Wir haben uns wirklich lange nicht gesehen!“
„Mir kommt es gar nicht lang vor“, meinte die Schildkröte, und ich erinnerte mich, dass sie ein völlig anderes Zeitgefühl als ich hatte.
„Ich habe neulich an dich gedacht, weil ich in einem Buch eine Geschichte über eine Schildkröte gefunden habe, von der ich dir gerne erzählen möchte. Hast du ein wenig Zeit?“
„Ich habe immer alle Zeit der Welt“, sagte die Schildkröte, und ich konnte ihr anmerken, dass ich ihre Neugier geweckt hatte.
Das fast vergessene Buch
So schob sie denn gleich auch noch eine Frage nach: „Was ist denn das für ein Buch, wo Geschichten über Schildkröten erzählt werden?“
„In dem Buch“, antwortete ich, „wird nur eine Geschichte über eine Schildkröte erzählt, die anderen Geschichten sind über andere Tiere. Das Buch steht schon lange in meinem Buchregal, aber ich hatte es fast vergessen. Und auch jetzt habe ich es eher aus Zufall entdeckt.“
„Wieso aus Zufall?“, fragte die Schildkröte und hob aufmerksam ihren Kopf.
„Nun, du musst wissen, dass ich schon immer Freude an Märchen, Fabeln oder einfachen, von Generation zu Generation weitererzählten Geschichten hatte. Ich habe viele Bücher damit aus aller Welt mitgebracht. Ich habe mich daran erinnert, dass darunter auch viele Tiergeschichten aus Afrika sind, und ich fragte mich, ob da wohl auch eine Schildkrötengeschichte dabei ist. Und so kam es, dass ich ein bisschen in meinen Büchern mit afrikanischen Geschichten gestöbert habe. Und da habe ich dann dieses Buch ...“ – ich zog ein Buch aus einem Stapel auf meinem Schreibtisch – „... wiedergefunden habe, in dem tatsächlich eine Schildkrötengeschichte steht.“ (Die Geschichte können Sie hier in englischer Sprache finden, dort sind auch das Titelblatt und zwei Abbildungen aus dem Buch zu sehen, das in meinem Regal steht.)
„Aus Afrika, so so ...“, brummte die Schildkröte, „... das ist sehr weit weg. Und da gibt es auch Schildkröten wie mich?“
„Schildkröten“, erzählte ich ihr, „gibt es überall auf der Welt, in allen Kontinenten und Ozeanen, mit Ausnahme der Polargebiete und Hochgebirge.“
Die Schildkröte wirkte beeindruckt und meinte: „Dann habe ich wohl sehr viele Verwandte. Aber was ist denn jetzt mit der Geschichte – erzählst du sie mir?“
Und so begann ich damit, der Schildkröte von der Geschichte zu erzählen, die von einer anderen Schildkröte handelt und davon, wie sie und die anderen Tiere ihre Schwänze bekamen.
Die Kisten der Waldantilope
„Die Geschichte“, begann ich, „spielt in einer sehr lange zurückliegenden Zeit, als die Tiere noch keine Schwänze hatten, in Mangochi, einem Ort im Land Malawi in Afrika.“
„Schwänze?“, unterbrach mich ich die Schildkröte. „Ach ja, deine Katzen haben welche, das ist mir schon aufgefallen. Habe ich denn auch einen?“, fragte sie. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“ Und während sie das sagte, versuchte sie mit ihrem Kopf nach ihrem Hinterteil zu schauen, was gar nicht so einfach zu sein schien und so lustig aussah, dass ich an mich halten musste, um nicht zu lachen, denn ich wollte sie nicht verärgern.
„Ja, du hast auch einen Schwanz, aber nur einen sehr kleinen, und genau davon handelt auch die Geschichte. Soll ich weiter erzählen?“ Die Schildkröte hatte ihren Blick wieder nach vorne gerichtet und nickte langsam.
„Eines Morgens nun, als es sehr heiß war, saßen einige Tiere beisammen. Unmengen von Fliegen surrten durch die heiße Luft, und dem Elefanten machten sie besonders zu schaffen. Er dachte, wie wunderbar es sein müsste, könnte er sie einfach mit seinem Schwanz verjagen. Doch er wusste nicht, woher man so etwas wie einen Schwanz bekommen könnte. Eine Elenantilope erzählte ihm von einer Waldantilope, die auf der anderen Seite des Tals und auf der anderen Seite des Hügels lebte und die Kisten mit allen möglichen Dingen hatte. Vielleicht war ja eine davon voll mit Schwänzen? Für ihn und für alle anderen Tiere? Und so machte sich der Elefant auf und wanderte durch das Tal und über den Hügel zu dem Ort, an dem die Waldantilope immer graste.“
Die Schildkröte hatte die Augen geschlossen. „Bist du eingeschlafen, Schildkröte?“, fragte ich sie.
„Nein“, schüttelte sie den Kopf, „ich versuche mir nur alles vorzustellen. Hast du Bilder von Elefanten und diesen Antilopen? Dann fällt es mir noch leichter.“
Ich schaltete meinen Computer an, hob die Schildkröte sachte auf meinen Schreibtisch und zeigte ihr auf dem Bildschirm Bilder dieser Tiere. „Die sind alle sehr groß!“, staunte die Schildkröte und schien beeindruckt. „Erzähl bitte weiter!“ Und sie schloss wieder ihre Augen.
„Als der Elefant bei der Waldantilope ankam, fragte er sie, ob sie so eine Kiste mit Schwänzen habe. Doch die war sich nicht sicher und ermunterte den Elefanten, in ihren Kisten, die herumstanden, nachzusehen. Der Elefant hob den Deckel einer Kiste mit seinem Rüssel an, doch was er sah, waren Dutzende von Perlen aus Glas.
Der Elefant wunderte sich darüber und die Waldantilope erzählte ihm, einige der Kisten seien voll mit Perlen, Geschenke von Tieren, denen sie einen Gefallen getan hatte. Doch der Elefant gestand ihr, er habe keine Glasperlen, die er ihr für die Schwänze anbieten könne. ‚Das macht nichts, du kannst Glasperlen mitbringen, wenn du das nächste Mal einen Gefallen brauchst“, bot ihm die Waldantilope an und ermunterte ihn, zurück zu seinen Freunden zu gehen. Wenn er zu ihnen das Wort ‚Tibibibi‘ sagen würde, bekäme nicht nur er, sondern alle Tiere Schwänze. Der Elefant versprach, das nächste Mal Glasperlen mitzubringen und ging zurück über den Hügel und das Tal hinunter nach Mangochi.“
„Tibibibi – das ist ein schönes Wort“, flüsterte die Schildkröte. „Und davon erzählte der Elefant dann seinen Freunden nach seiner Rückkehr?“
Das vergessene Wort
„Als er an der Wasserstelle ankam, waren die anderen Tiere natürlich neugierig, was er bei der Waldantilope herausgefunden hatte. Er erzählte ihnen, dass die anderen Tiere der Waldantilope normalerweise für einen Gefallen Glasperlen schenkten, dass er aber beim nächsten Mal welche mitbringen könne. Und er wollte ihnen das Wort sagen, dass ihm die Waldantilope mit auf den Weg gegeben hatte – aber zu seiner großen Bestürzung fiel es ihm nicht mehr ein.“
„Tibibibi hieß das Wort“, sagte die Schildkröte. „Wie schade, dass er sich nicht erinnert hat!“
„Ja, das war sehr schade,“ nickte ich, „zumal Elefanten eigentlich bekannt dafür sind, nie etwas zu vergessen. Nun beschloss die Elenantilope, zu ihrer Artgenossin, der Waldantilope zu gehen und sie nach einer Kiste mit Schwänzen zu fragen oder, sollte es keine geben, nach dem magischen Wort, das den Tieren Schwänze geben würde.
Sie rannte los, denn Antilopen sind sehr schnelle Tiere, aber es geschah das Gleiche: In der Schachtel befanden sich nur Glasperlen, und die Elenantilope hatte selbst keine Perlen mitgebracht. Dennoch gab ihr Waldantilope das magische Wort Tibibibi mit auf den Weg. Doch was denkst du, liebe Schildkröte, was passierte, als die Waldantilope bei ihren Freunden ankam?“
„Hatte Sie das Wort auch vergessen?“, fragte die Schildkröte und schüttelte verwundert den Kopf. „Das täte mir sehr leid.“
„Ja“, fuhr ich fort, „sie hatte es seltsamerweise genauso vergessen wie der Elefant. Schließlich machte sich der Leopard auf zu der Waldantilope, um sie um Schwänze aus einer Kiste zu bitten, und als er nur Glasperlen fand, bat er sie um das magische Wort, das den Tieren Schwänze geben würde. Aber als er nach Mangochi zurückkehrte, hatte auch er es vergessen.“
„Tibibibi hieß es“, sagte die Schildkröte und wiederholte es gleich noch ein paarmal gedankenverloren. Dann aber hob sie den Kopf zu mir und fragte: „Aber du hast nicht gesagt, in der Geschichte käme eine Schildkröte vor?“
Wunderschöne Glasperlen
„Ja, liebe Schildkröte, die tritt jetzt in Erscheinung. Denn als weder der Elefant noch die Elenantilope noch der Leopard Schwänze mitgebracht oder sich an das Wort erinnert hatten, meldete sich die Schildkröte zu Wort.“
„Ob sie sich wohl an das Wort erinnert hat?“, fragte die Schildkröte und ich hatte den Eindruck, dass sie ihrer Artgenossin das zutraute
„Sei nicht so schnell, liebe Schildkröte, das bist du doch sonst auch nicht. Lass mich der Reihe nach erzählen“, versuchte ich Ordnung in die Geschichte zu bringen. "Die Schildkröte wusste, dass sie etwas länger brauchen würde auf ihrem Weg zur Waldantilope als Elefant, Elenantilope und Leopard. Sie schlich sich langsam ins Dorf, um auf dem Marktplatz Glasperlen zu sammeln, die Verkäufer auf dem Marktplatz fallen gelassen hatten. Sie fand fünf Glasperlen, verstaute sie in ihrem Panzer und machte sich auf den Weg. Nach vielen Tagen fand sie die Waldantilope unter ihrem Feigenbaum, umgeben von ihren Kisten. ‚Guten Tag, Waldantilope‘, sagte sie. ‚Ich möchte dir ein paar schöne bunte Glasperlen schenken.‘
Und sie breitete die Perlen vor der Waldantilope aus, die leuchtend grün, himmelblau, orange wie das Feuer, sonnengelb und schwarz wie eine Nacht ohne Sterne waren.“
„Die waren bestimmt wunderschön, diese Glasperlen“, staunte die Schildkröte.
„Das waren sie wirklich“, bestätigte ich. „Die Waldantilope war verzaubert und fragte die Schildkröte, ob sie ihr auch eine Gefallen tun könne. ‚Vielleicht wärst du so freundlich, mir die magischen Worte zu sagen, die uns allen Tieren Schwänze verleihen?‘, fragte sie. ‚Du wirst dich bestimmt‘, sagte die Waldantilope, ‚an das Wort Tibibibi erinnern, wenn du zu den anderen Tieren zurückkehrst. Denn du bist sehr klug und weise, liebe Schildkröte.‘ Und das seid ihr ja wirklich, ihr Schildkröten," sagte ich und lächelte meine Schildkröte an. „Deswegen unterhalte ich mich ja auch immer so gerne mit dir.“
Sie versuchte wohl, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich merkte doch, dass ihr diese Worte gefielen. „Und was war, als die Schildkröte zurückkam zu den anderen Tieren?“, fragte sie dann.
Tiergeschichten und Menschengeschichten
„Die anderen Tiere freuten sich zunächst einmal sehr, sie wiederzusehen, denn sie war wochenlang weg gewesen.“
„Das ist nicht so wichtig“, meinte meine Schildkröte und schüttelte ihren Kopf. „Alles braucht seine Zeit, und entscheidend ist, ob sie das Wort noch wusste.“
„Nun, die anderen Tiere glaubten nicht daran. Sie meinten: ‚Wie schön, dich wieder zu Hause zu sehen, auch wenn du bestimmt das magische Wort vergessen hast, das die Waldantilope dir gab, damit wir Schwänze bekommen, um die Fliegen zu verjagen.‘ Die Schildkröte schaute ihre Freunde an und sagte dann: ‚Das Wort heißt Tibibibi! Mögen wir alle Schwänze haben!‘ Als sie das sagte, schaute jedes Tier hinter sich und sah, dass es einen Schwanz hatte: der Elefant, die Elenantilope und auch der Leopard, sie alle konnten damit nun endlich die lästigen Fliegen verjagen.“
„Die Schildkröte“, fuhr ich fort, „schaute nach ihrem eigenen Schwanz und stellte fest, dass es einer der kleinsten Schwänze aller Tiere war. Aber sie verstand, dass jedes Tier einen Schwanz hat, der zu ihm passt. Sie selbst wollte keinen großen Schwanz durch den Staub hinter sich herziehen. Ihr Schwanz war genau richtig. ‚Danke, Schildkröte‘, riefen alle Tiere, ‚dass du uns Schwänze besorgt hast!‘ Dann hob der Elefant die von der langen Reise müde Schildkröte auf seinen Rüssel und setzte sie an einen schattigen Platz unter dem Feigenbaum, damit sie sich in ihrem Panzer ausruhen konnte. Und das, meine liebe Schildkröte, ist das Ende dieser Geschichte.“
Eine lange Zeit war es still im Raum. Die Schildkröte ließ all das Erzählte nachwirken und schien nachzudenken. Dann sagte sie langsam: „Das ist eine schöne Geschichte. Ich glaube, sie ist eher eine Menschengeschichte als eine Tiergeschichte. Ihr Menschen erzählt euch wohl solche Geschichten über Tiere und meint dabei eigentlich euch Menschen. Ihr interpretiert in uns Tiere Dinge hinein, die euch Menschen wichtig sind.“
„Da hast du recht, liebe Schildkröte“, stimmte ich ihr zu. „Wenn wir die Geschichten so erzählen, dann können wir Menschen sie leichter verstehen und annehmen.“
„Typisch für euch Menschen ist auch,“ fuhr die Schildkröte fort, „dass in der Geschichte erst drei Tiere vergeblich zur Waldantilope gehen müssen, bis die Schildkröte sich dann an das magische Wort erinnert. Ich glaube, Geschichten, die wir Tiere uns erzählen, sind viel einfacher. Und wir denken auch nicht groß über unsere Schwänze nach und es ist für uns unwichtig, ob der eine groß und der andere kleiner ist.“
Sie schwieg einen Moment und dachte wieder nach. Dann sprach sie weiter: „Wir Schildkröten brauchen wirklich keinen Schwanz, denn wir sind durch unseren Panzer gut geschützt, so dass uns die Fliegen nicht stören. Und unseren kleinen Schwanz können wir ganz in den Panzer einziehen, so dass er bei Gefahr geschützt ist. Ich frage mich, warum dann in der Geschichte gerade die Schildkröte sich an das Wort erinnern konnte, im Gegensatz zu den anderen Tieren?“
„Vielleicht“, entgegnete ich, „kam das gerade daher, dass sie ihn nicht so dringend benötigte. Das erinnert mich an etwas, über das ich auch in meinem Buch „Schildkröte trifft Schneekristall“ geschrieben habe, in dem du auch vorkommst und von dem ich dir schon oft erzählt habe: Wenn wir etwas sehr verbissen suchen, dann finden wir es oft nicht. Doch das, was wir nicht suchen, finden wir viel leichter.“
„Ja“, nickte die Schuldkröte. „Suche weniger, und du wirst mehr finden“, das ist ein guter Rat. Vertraue einfach darauf, dass du immer das bekommst, was du auch wirklich verkraften kannst, nicht mehr, und nicht weniger. Keinen zu großen, keinen zu kleinen Schwanz, sondern den, den du wirklich benötigst. Wenn ihr Menschen das durch so eine Tiergeschichte beherzigt, dann stellen wir Tiere uns gerne dafür zur Verfügung.“
Ich hatte den Eindruck, dass sich die Schildkröte mit diesen Worten von mir verabschieden wollte, doch dann hielt sie inne und setzte noch einmal an: „Übrigens habe ich mal gehört, dass es auch eine Geschichte von einer Schildkröte und einem Hasen geben soll. Kennst du die?“
„Ja“, sagte ich, „diese Fabel habe ich auch irgendwo in meinem Bücherregal. Ich werde danach schauen und wenn du das nächste Mal kommst, werde ich sie dir erzählen. Einverstanden?“
„Ja, darauf freue mich,“ nickte die Schildkröte, und es sah fast so aus, als würde sie lächeln. Ich setzte sie wieder auf den Boden und sie kroch langsam zur Tür.
„Danke für die Geschichte“, hörte ich sie noch sagen, als sie schon aus der Tür war.
„Adieu, liebe Schildkröte, bis zum nächsten Mal!“, rief ich ihr nach.