Vom Bedürfnis nach Neuem und dem Genuss des Augenblicks
Anfang März war ich im Urlaub auf La Gomera, und nach meiner Rückkehr saß ich eines Tages an meinem Schreibtisch und schaute mir die ausgedruckten Fotos an, die ich auf dieser Reise geschossen hatte.
Ich schwelgte in Erinnerungen und dachte, wie schön es doch ist, zu verreisen, sich von der anderen Umgebung inspirieren zu lassen und den Horizont zu erweitern.
Da kam plötzlich meine Schildkröte, die sich mal wieder längere Zeit nicht hatte blicken lassen, ins Zimmer und schritt mit unbewegter Miene auf mich zu. Sie schaute auf meine Hand, in der ich die Urlaubsfotos hielt, und fragte unvermittelt: „Was machst du da gerade?“
„Hallo, liebe Schildkröte“, begrüßte ich sie. „Ich schaue mir Fotos von meiner letzten Reise an.“
Die Schildkröte staunte: „Eine Reise?“
Und so entwickelte sich ein Gespräch über das das Bedürfnis nach Reisen und nach vertrauten oder unvertrauten Erfahrungen – bei Menschen und bei meiner Schildkröte.
Auf Reisen
„Sag mir doch bitte, was du die ganze Zeit gemacht hast, bevor ich dir von meiner Reise erzähle“, bat ich sie.
„Ich wollte“, antwortete sie und streckte sich dabei ein wenig, „ja eigentlich mal keinen Winterschlaf halten. Bis Januar habe ich es auch durchgehalten. Aber der Winter ist doch nichts für mich. Trotz Klimawandel und Heizung. Draußen ist es zu kalt, zu fressen gibt es auch kaum etwas. Da habe ich dann doch wieder Winterschlaf gehalten. Und bin gerade erst wieder aufgewacht.“
Doch dann schaute sie wieder auf die Urlaubsfotos und fragte: „Warum bist du gereist? Hast du jemanden besucht?“
„Nein, ich bin mit einem Flugzeug auf eine Kanarische Insel geflogen, nach La Gomera, das gehört zu Spanien, ist aber schon auf der Höhe von Affrika. Da wollte ich mich in der Wärme erholen, bin zwei Wochen geblieben, und es war wunderschön. Ich habe viel gesehen und das warme Klima genossen, während es hier kalt und ungemütlich war. Bei meiner nächsten Reise im Winter könntest du mitkommen, dann brauchst du wirklich keinen Winterschlaf mehr! Hast du Lust dazu?“
Die Schildkröte schwieg eine Weile mit skeptischem Gesichtsausdruck und meinte dann: „Wozu ist dieses Reisen gut? Um im Winter Sommerwetter zu haben? Und dafür so viele Kilometer zurückzulegen? Ist das erholsamer als mein Winterschlaf?“
Aus der Komfortzone
„Es geht“, konterte ich, „nicht nur um das Wetter – obwohl ich zugebe, dass das auch ein schöner Aspekt der Reise war. Aber für mich bedeutet unterwegs zu sein vor allem, zu entdecken, dass es in der fernen Welt ganz anders ist als zu Hause. Ich bekomme neue, unvertraute Eindrücke, das regt mich an und holt mich etwas aus den Gewohnheiten des Vertrauten. Ich lerne dadurch nicht nur neue und andere Welten kennen, sondern erlebe auch mich selbst anders und komme aus meiner Komfortzone raus.“
„Komfortzone?“, wiederholte die Schildkröte langsam das Wort. „Das Wort finde ich schön, es erinnert mich an meinen Winterschlafplatz. Da war es wunderbar komfortabel.“
„Ja, liebe Schildkröte“, lachte ich, „aber wenn ich mich zu lange in der Komfortzone aufhalte, dann erlebe ich nichts Neues mehr, lerne nichts Neues mehr dazu, entwickle mich nicht mehr weiter. Dann stumpfe ich sogar mit der Zeit etwas ab.“
Die Schildkröte schwieg wieder eine Weile, und ich konnte spüren, wie intensiv sie nachdachte. „Warum“, sinnierte sie dann, „ist es so wichtig für euch Menschen, immer wieder Neues zu erleben und zu lernen.? Ist denn das Vertraute unangenehm?“
„Unangenehm nicht“, versuchte ich zu erklären, „aber immer dasselbe oder Ähnliches zu tun, langweilt uns Menschen schnell.“
Langeweile und Neugier
„Langweilen, was ist das?“, fragte die Schildkröte nach.
Ich überlegte, wie ich ihr das erklären konnte, und versuchte es dann so: „Wenn wir uns langweilen, scheint die Zeit stehenzubleiben, und wir bekommen das Gefühl, dass alles fad ist, dass wir immer nur auf der Stelle treten und nicht weiterkommen. Das macht uns müde und lustlos, und wir sehnen uns nach Abwechslung, in der wir wieder aufblühen und uns lebendig fühlen können – das ist genau die Erholung, die ich meinte.“
„Ihr Menschen“, nickte die Schildkröte nachdenklich, „wollt immer weiterkommen und Neues erfinden. Ihr habt die Welt damit verändert und manches Gute geschaffen. Doch ist die Welt dadurch schöner geworden?“
Ich lächelte sie an und sagte: „Ich verstehe sehr gut, was du meinst. Auch immer mehr von uns Menschen sind mit der Art, wie wir uns hier auf der Erde ausgebreitet und uns an allem ‚bedient‘ haben, unzufrieden und finden, dass wir endlich zurückrudern und Rücksicht nehmen sollten. Dennoch haben wir Menschen einfach diesen inneren Antrieb, uns permanent weiterzuentwickeln, und so sind wir ständig auf der Suche nach Neuem. Seid ihr Schildkröten denn gar nicht neugierig auf Neues?“
„Gierig?“, staunte die Schildkröte. „Gierig auf Neues?“
Jeder Tag aufs Neue schön
Sie schüttelte den Kopf: „Wir sind schon interessiert an Dingen, die wir noch nicht kennen. Aber nur zu laufen, um etwas Neues zu sehen, klingt nach einer unnötigen Anstrengung. Jeder Tag ist für mich ein neuer Tag. Ich frage nicht, ob er so ähnlich oder anders ist als die anderen Tage.“
Ich versuchte es noch einmal aus einer anderen Richtung: „Kannst du dich denn erinnern, liebe Schildkröte, dass wir im Januar über die Meeresschildkröte gesprochen hatten, die eigentlich nahe der Küste im Golf von Mexiko und im Atlantik beheimatet ist, aber bis in die kalte Nordsee geschwommen war? Die scheint ja doch ein wenig neugierig gewesen und von Reiselust gepackt worden zu sein. So ganz fremd ist euch Schildkröten das vielleicht doch nicht?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte die Schildkröte, „was meine schwimmende Artgenossin da so weit weggetrieben hat. Vielleicht wurde sie von Neugier gepackt. Oder war einfach hinter Muscheln und Tintenfischen her. Und hat dabei die Orientierung verloren. Doch ich glaube, es war einfach die Meeresströmung.“
Schöne Momente festhalten
Ich dachte schon, es reiche ihr nun und sie würde wieder weggehen wollen. Aber dann fing sie zu meiner Überraschung doch noch einmal an: „Was ist so schön daran, sich nach so einer Reise diese Bilder anzusehen? Das, was da drauf ist, kennst du doch schon alles?“
„Ja, das stimmt schon,“ stimmte ich ihr zu, „aber ich erinnere mich gerne an die Momente, und oft kann ich mir das, was ich da fotografiert habe, sogar hinterher in mehr Ruhe ansehen als in dem Moment, in dem ich die Aufnahme gemacht habe ...“
„Aber du könntest“, „unterbrach mich die Schildkröte, „dir doch einfach am Ort Zeit nehmen – dann bräuchtest du vielleicht hinterher diese Fotos nicht mehr?“
„Wir Menschen“, versuchte ich ihr zu erklären, „haben halt immer diesen Reflex, schöne Dinge oder schöne Momente festhalten zu wollen – ich glaube, dahinter steckt die Angst, wir könnten sie sonst vergessen. Ich kann verstehen, dass das etwas merkwürdig für dich klingt, weil du dich ganz anderes erinnerst, aber ich schaue mir viele Bilder wirklich sehr gerne immer mal wieder an und denke dann mit Freude an den Moment. Oft stellen sich dann bei mir noch einmal genau dieselben Empfindungen ein wie damals, und das finde ich sehr schön.“
Ein wenig mehr Aufmerksamkeit
Die Schildkröte betrachtete mich eine Weile ganz ruhig mit großen Augen. Dann meinte sie nur: „Für mich ist Vergangenheit vergangen. Ich lebe jetzt in der Gegenwart und genieße jeden Moment. Ich kann nicht beurteilen, wie es für Menschen richtig ist. Aber vielleicht könnte euch ein wenig mehr Aufmerksamkeit für die Gegenwart auch nicht schaden?“
Ich nickte: „Ja, ich glaube, da hast du recht, liebe Schildkröte. Wir Menschen tun uns schwer damit, uns voll auf den gegenwärtigen Moment zu fokussieren. Vielleicht auch deshalb, weil wir die Fähigkeit haben, uns mit unseren bisherigen Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit ist manchmal etwas ganz Großartiges, wenn es darum geht, zielorientiert zu handeln, aber sie birgt das Risiko, dass wir selten komplett mit all unseren Sinnen in der Gegenwart sind, so wie du das sein kannst.“
Die Schildkröte nickte nur, als wüsste sie das schon lange, und dann fuhr ich fort: „Und du hast vollkommen recht, das mit den Fotos, dass übertreiben wir Menschen auch immer mehr. An besonders schönen Orten der Erde stehen wir Schlange, um tolle Fotos zu machen, und die riesigen Menschenmengen führen dazu, dass die Plätze dann gar nicht mehr so schön sind. In dem Bemühen, etwas Unvergessliches festzuhalten, lassen wir in dem Moment nicht mehr unser eigenes Gefühl auf uns wirken. Obwohl genau das eine intensive Art von Erinnerung erzeugen könnte, eine, aus der wir später viel mehr schöpfen könnten als aus so einem Foto.“
Jetzt schien die Schildkröte wieder ihren Kopf ganz leicht zu schütteln, sagte aber weiterhin nichts.
Wirklich genießen
„Übrigens“, fügte ich an, „habe ich am Schluss unserer Reise auf der Insel Teneriffa auch ein Erlebnis mit dieser merkwürdigen Fotografiersucht gehabt. Als ich zum Sonnenaufgang im Hafen spazieren ging, zeigte uns ein Fischer, dass hier an diesem Morgen drei wirklich wunderschöne, riesige Rochen schwammen. Und auch noch eine Meeresschildkröte – die so groß war, dass ich sie mit beiden Armen gerade so hätte umfassen können ...“
„So groß?“, staunte meine Schildkröte, und ich merkte, dass sie beeindruckt war.
„Ich habe da gestanden“, fuhr ich in meiner Erzählung fort, „und alles total fasziniert beobachtet. Neben mir stand ein Mann, der ein Handy bei sich hatte, mit dem er die Fische und die Schildkröte fotografieren wollte. Das legte er nun in eine Tüte, damit es wasserdicht war. Dann ließ er es an einer Schnur ins Wasser und versuchte es mit der Kameraseite in Richtung Rochen zu drehen. Ab da war er die ganze Zeit damit beschäftigt, dass das Handy die richtige Position hatte, um mit einer Fernbedienung Aufnahmen machen zu können. Immer wieder holte er es hinaus, kontrollierte die Bilder, war nicht zufrieden und versenkte das Handy erneut im Wasser. Er schaute überhaupt nicht mehr auf die eleganten Bewegungen dieser schönen Tiere, weil er ausschließlich damit beschäftigt war, die Position des Handys optimal hinzubekommen.“
Hatte meine Schildkröte da gelacht? Einen Moment schien es mir so, aber ihre Miene blieb unbewegt. So erzählte ich weiter: „Ich fürchte, wenn er sich jetzt seine Bilder anschaut, wird er sich nicht an Details von den Rochen oder der Schildkröte erinnern oder an die Atmosphäre oder gar sein eigenes Glücksgefühl in dem Moment – sondern er wird daran denken, wie er mit dem Handy beschäftigt war. Ich nehme an, er hat wirklich tolle Aufnahmen jetzt, aber die transportieren eine ganz andere Erfahrung als die, die er wirklich gemacht hat.“
Die Schildkröte schien mich fast ein wenig mitleidig anzuschauen und sagte: „Ihr Menschen seid halt anders als wir. Ich wünsche euch, dass ihr eure Reisen bei aller Fotografiererei auch noch im Augenblick genießen könnt. Und dass ihr bei aller eurer Gier auf Neues auch das Vertraute und Bekannte noch schätzen und genießen könnt ...“
Das bin ich?
Bei den letzten Worten hatte sie sich schon umgedreht und den Weg aus meinem Arbeitszimmer angetreten, aber sie blieb doch noch einmal stehen, drehte sich zu mir um und fragte dann zu meiner Überraschung: „Kannst du von uns beiden auch mal so ein Foto machen? Das schauen wir uns dann beim nächsten Mal gemeinsam an. Dann verstehe ich noch besser, wie das ist, etwas Schönes , ‚festzuhalten‘.“
Ich freute mich über ihr Interesse, ging zu ihr hin und machte ein Selfie von uns beiden. Sie schaute es sich auf dem Display lange kritisch an und meinte dann: „Das bin ich? Lustig, sich selbst so zu sehen. Ich sehe etwas zerknittert aus, oder? Das zeigst du aber bitte niemandem, auch nicht den Lesern von deinem Blog. Die müssen nicht alles wissen ...“ Einen Moment sah es so aus, als würde sie mir dabei zuzwinkern.
Ich versprach es ihr, dann drehte sie sich wieder um und machte sich endgültig auf den Weg zur Zimmertür, wobei ich sie noch murmeln hörte: „... und ob ich mal mitkomme auf eine deiner Reisen – das überlege ich mir noch. Damals im Schnee hat es mir schon sehr gut gefallen ...“
Ich konnte ihr nur noch ein erfreutes „Ade, liebe Schildkröte, das würde mich sehr freuen. Besuch mich bald wieder!“ zurufen, da war sie schon verschwunden. Dann schaute ich noch einmal auf meine Urlaubsfotos, und plötzlich verspürte ich eine große Lust, in meinen Garten zu gehen und nachzuschauen, welche Frühlingszeichen dort schon zu sehen waren.
Ich zog mir eine warme Jacke an, ging hinaus, genoss die zarte Frühlingssonne, den Frühlingswind, den Gesang der Vögel und den Anblick der Märzenbecher. Dann schloss ich die Augen und sog diesen schönen Moment ganz tief in mich hinein.