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Die Macht der unterschiedlichen Sichtweisen

 

„Von Texas in die Niederlande – und wieder zurück: Seltene Schildkröte 8000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt gerettet.“ Auf diese Schlagzeile in SPIEGEL online wurde ich im November letzten Jahres aufmerksam.

Nun interessieren mich, wie Sie schon wissen, Schildkröten an sich und insofern auch Schildkrötengeschichten sowieso immer. Diese hier fand ich spannend, weil sie mich zum Nachdenken darüber anregte, wie unterschiedlich man eine Geschichte erzählen und bewerten kann und was das für Folgen hat.

Ich beschloss also, darüber einen Text für Sie zu schreiben. Und während ich ihn schrieb, tauchte nach einigen Monaten auf einmal wieder, wen wundert’s, wie aus dem Nichts meine Schildkröte in meinem Arbeitszimmer auf – und trug noch ihre ganz eigene Sichtweise auf die Geschichte bei ...

 

Boeiers Reise

Was war genau passiert? Eine vom Aussterben bedrohte Meeresschildkröte aus der Art der „Kemp’s-Ridley“-Schildkröten, die normalerweise nahe der Küste im Golf von Mexiko und im Atlantik beheimatet sind, war von der Strömung aus diesen warmen Gewässern in die kalte Nordsee abgetrieben worden.

Vor der niederländischen Küste war sie schließlich entkräftet gefunden worden, als sie sich im Netz eines Fischerboots verfangen hatte, durch das sie möglicherweise vor dem Kältetod gerettet werden konnte. Nach diesem Boot war sie von den Fischern „Boeier“ getauft und dann in den Zoo von Rotterdam gebracht und gesund gepflegt worden.

Nach rund einem Jahr war sie Ende Oktober schließlich als Frachtpassagier von Amsterdam nach Houston zurückgeflogen worden. Von dort konnte sie nach medizinischen Tests und einem Eingewöhnungsprozess am 4. November am Stewart Beach in Galveston in den Golf von Mexiko entlassen werden.

Ein Ortungsgerät, mit dem sie versehen wurde, ermöglichte es Forschern der Texas A&M University in Galveston, ihre Bewegungen nachzuverfolgen. Demnach hatte sie Mitte November schon wieder eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, sich aber zumindest fürs Erste auf die Küste in der Nähe von Matagorda Island an der Golfküste von Texas beschränkt. Die Rückkehr der Schildkröte in den Golf von Mexiko wertete der Zoo als einen „bedeutenden Meilenstein für die Erhaltung dieser großartigen Kreaturen“.

Vom ersten Moment an, als ich davon gelesen hatte, faszinierte mich die Doppelbödigkeit der Geschichte: Ein Fischernetz, das sonst für so viele Tiere eine in der Konsequenz tödliche Falle ist, war hier die Rettung? Oder hatte es die Schildkröte vielleicht auch nur von der Fortsetzung eines Abenteuers abgehalten, zu dem sich aufgemacht hatte?

Ich bin keine Meeresbiologin und kann die reale Gefährdung der Schildkröte oder auch das, was sie tatsächlich angetrieben hat, in dieser Situation nicht wirklich beurteilen. Aber es reizte mich, mir die Geschichte in zwei Versionen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven mit den daraus resultierenden Erkenntnissen anzusehen.

 

Aufbruch ins Abenteuer

In der einen Version stellte ich mir vor, dass die Schildkröte vielleicht eines Tages beschlossen hatte, ihr Leben nicht mehr wie bisher immer in denselben Gewässern zu verbringen, und stattdessen voller Neugier zu einem Abenteuer in unbekannte Regionen aufgebrochen war. Es war anstrengend und voller Ungewissheit, aber fasziniert nahm sie wahr, wie sich die Farbe des Wassers änderte sowie immer wieder neue, ihr bisher unbekannte Tiere und Pflanzen um sie herum erschienen. Sie fühlte sich so frei wie nie zuvor und war erfüllt von dem Gefühl, sie könne noch viel länger und viel weiter in die Ferne der Ozeane hinausschwimmen und immer mehr von der Welt kennenlernen.

Zwar registrierte sie, wie das Wasser immer kälter wurde und sie immer mehr Energie aufwenden musste, um gegen die Kälte und die zunehmende Erschöpfung anschwimmen zu können, doch unbeirrt schwamm sie weiter und weiter – bis sie sich schließlich in diesem blöden Fangnetz verfing. Im ersten Moment war sie sehr geschockt, denn sie hatte von diesen Netzen gehört und wusste, dass sie für viele Meeresbewohner das sichere Ende bedeuteten.

Doch dann wurde sie aus dem Netz herausgeholt und in ein Lager gebracht, das die Menschen „Zoo“ nannten und in dem außer ihr viele andere Tiere in Gefangenschaft lebten. Obwohl die Menschen recht freundlich zu ihr waren und dafür sorgten, dass sie nach der anstrengenden Reise wieder zu neuen Kräften kam, fühlte sie sich eingesperrt und sehnte sich zurück nach der Freiheit der Meere.

Schließlich hatte man sie in eine Kiste verfrachtet und sie war nach einer längeren ungemütlichen Wartezeit darin wieder freigelassen worden – und zwar zu ihrer großen Überraschung ganz in der Nähe der Gegend, aus der sie in ihr großes Abenteuer gestartet war. Im ersten Moment war sie enttäuscht gewesen: Schließlich hatte sie die lange Reise bestimmt nicht angetreten, um wieder an den Anfangspunkt zurückgebracht zu werden! Was sollte das bringen?

Aber dann freute sie sich, im vertrauten Gewässer alte Bekannte wieder zu treffen, und sie beschloss, nach ein paar Wochen der erneuten Eingewöhnung an das Leben im Meer einfach zu einem neuen Ausflug ins Unbekannte zu starten. Vielleicht würde sie ja diesmal mehr Glück haben und nicht wieder in solch einem Fischernetz landen.

 

Von der Strömung abgetrieben

In der anderen Version aus einer anderen Sichtweise stellte ich mir vor, dass die Schildkröte eines Tages auf ihrer üblichen Runde in vertrauten heimischen Gewässern auf einmal eine Strömung gespürt hatte, gegen die sie anschwimmen musste. Sie hatte so etwas noch nie erlebt und deswegen die Strömung anfangs auch nicht so ganz ernst genommen und mehr als eine kleine sportliche Herausforderung empfunden.

Unmerklich war die Strömung immer stärker geworden, und als sie komplett von ihr mit Macht erfasst und in eine andere Richtung abgetrieben wurde, war es bereits zu spät, sich zu wehren. Sie versuchte mit allen Kräften, dagegen anzukommen, doch die Strömung war zu stark. Um nicht zu schnell alle Kräfte zu verlieren, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von ihr davon treiben zu lassen – in eine unbekannte, immer kälter und bedrohlicher werdende fremde Welt, die ihr Angst machte.

Sie fühlte sich einsam und hilflos, die immer stärker werdende Kälte raubte ihr nach und nach ihre letzten Kräfte und den Lebensmut. Bis sie plötzlich in ein Rettungsnetz geriet, aus dem freundliche Menschen sie befreiten und in ein Lazarett brachten, das sie „Zoo“ nannten. An diesem Ort, an dem viele andere Tiere lebten, fühlte sie sich wohl, wurde gut gepflegt und kam so langsam wieder zu Kräften.

Nach einer ganzen Weile schließlich brachten sie die Menschen zurück in ihre Heimat, nach der sie sich mit der Zeit, so gut sich auch alle im Zoo um sie gekümmert hatten, immer mehr zurückgesehnt hatte. Überglücklich schwamm sie wieder in ihrer vertrauten Umgebung und beschloss, in Zukunft genauer aufzupassen, damit sie nicht wieder in so eine gefährliche Strömung geriet. 

 

Es kommt darauf an, wie wir uns erinnern

Als ich mir diese unterschiedlichen Versionen aufgeschrieben hatte, dachte ich, dass meine liebe Schildkröte, die mich immer wieder mal besuchen kam und mit der ich bereits so viele anregende Gespräche geführt hatte, bestimmt nur den Kopf schütteln würde, wenn sie von meinen Gedanken erführe.

Bestimmt würde sie so etwas brummen wie: „Das ist mal wieder typisch für euch Menschen, dass ihr die Geschichte, die einer Schildkröte widerfährt, nach euren eigenen Maßstäben interpretiert – und dann auch noch in zwei unterschiedlichen Varianten. Das zeigt doch nur, dass ihr überhaupt keine Ahnung habt, wie es in uns Schildkröten wirklich aussieht!“

Und wenn meine Schildkröte so etwas sagen würde, dann müsste ich ihr, so gestand ich mir nun ein, wohl oder übel recht geben. Ja, die Geschichte von Boeier hatte mich zu Überlegungen angeregt, die mehr zu uns Menschen als zu Schildkröten passen – weil wir Menschen ständig interpretieren und bewerten, was wir für ein gutes oder schlechtes Ereignis in unserem Leben halten.

Sie hatte mich außerdem an ein eigenes Erlebnis erinnert. Ich war mit einer Freundin mit meinem damals noch ganz neuen (und mir nicht sonderlich vertrautem) E-Auto unterwegs in die Niederlande, wir wollten einmal quer durchs Land nach Noordwijk, zum Meer. Das Blöde war: Wenn man in den Niederlanden das Auto laden will, benötigt man eine App und eine dazugehörige Karte, die den Vorgang aktiviert und die man sich zuschicken lassen muss, um einen Ladeplatz nutzen zu können. Und ich hatte zwar die App, doch die Karte war noch nicht zugeschickt worden – ohne Karte gibt es an diesen Ladestationen aber trotz App keinen Strom.

Wenn man diese Voraussetzungen nicht mitbringt, ist es in den Niederlanden eher schwierig, einen freien Ladeplatz zu finden. Vereinzelt gibt es an Autobahnraststätten Ladesäulen, an denen man mit Kreditkarte laden kann, und manchmal funktionieren sie sogar. Und so eine hatten wir dann nach mehreren vergeblichen Anläufen tatsächlich gefunden, an der wir nun auch sicherheitshalber voll auf 100 Prozent laden wollten.

Doch es dauert es einfach wirklich lange, bis so ein E-Auto vollgeladen ist. Bei uns dauerte es gut eineinhalb Stunden. Wenn man dann auch noch wie wir nur einen Tag Zeit hat, um ans Meer zu fahren, und am nächsten Tag schon wieder zurück muss, bedeutet es eher ein Ärgernis, einen Teil der knappen und kostbaren Zeit an einer Autobahnraststätte zu vergeuden. Und so ärgerten auch meine Freundin und ich uns zunächst über die Situation, zumal wir uns nicht sicher waren, ob wir es überhaupt bis nach Noordwijk und von dort auch wieder zurück schaffen würden.

So saßen wir mit unserem dritten Kaffee im Auto an der Raststätte und schauten sinnierend aus dem Fenster. Da sagte meine Freundin: „Weißt du was? Es wird darauf ankommen, wie wir uns an dieses Wochenende erinnern. Werden wir uns erzählen, was für eine Pleite das war, weil wir hier so lange warten mussten? Das wäre doch schade! Lass uns die Perspektive wechseln und es mal so sehen: Wer will schon ans Meer, wenn man genauso gut anderthalb Stunden lang an einer Autobahnraststätte die vorbeifahrenden Autos anschauen und einen Kaffee nach dem anderen schlürfen kann, während das Auto lädt?“

Wir lachten beide über diese verrückte Idee, schlürften weiter unseren Kaffee, sahen dem Auto beim Laden zu und fuhren dann weiter. Als wir endlich im Dunkeln in Noordwijk angekommen waren, alberten wir weiter über die Vorteile einer Sicht aufs Meer im Dunkeln herum.

Wir machten also, wie man so schön sagt, das Beste aus der Situation. Am nächsten Tag fuhren wir wieder zur selben Raststätte zurück, luden unser Auto erneut, tranken unsere drei Kaffee und schafften es von da aus bis nach Münster.

Wenn ich heute an dieses Wochenende zurückdenke, dann gibt es in mir tatsächlich auch zwei unterschiedliche Sichtweisen. Eine Stimme in mir sagt das Naheliegende: Nie wieder fahre ich mit dem E-Auto für zwei Tage nach Holland, das bringt nichts, das dauert viel zu lange. Aber ich denke auch: Das Noordwijk-Wochenende war etwas Besonderes! Wir haben uns echt amüsiert da beim vielen Rumstehen an der einzigen, für mein E-Auto zum Laden geeigneten Autobahnraststätte – und – wir haben die Zeit eben nicht totgeschlagen, sondern intensiv genutzt für ein positives Erlebnis.

 

Die Erinnerungen sind frei

Welcher Version der Interpretation wir bei solch einem Erlebnis den Vorzug geben, ob wir überhaupt in der der Lage sind, das Ganze aus mehreren Perspektiven und mit Humor zu betrachten, das haben wir selbst in der Hand – im Nachhinein, aber auch schon in der Situation selbst. Wenn wir bereit dazu sind, unvorhergesehene Erlebnisse zunächst einmal grundsätzlich positiv zu interpretieren, entwickelt sich in der Regel auch der weitere Verlauf positiver.

Und wenn die Erinnerung daran später schöner ist, weil ich mir die Geschichte positiver erzähle, dann geht es mir beim Erinnern auch viel besser. Der Körper verfügt sogar über eigene euphorisierende Botenstoffe (Endorphine), die in einer solchen positiven Stresssituation freigesetzt werden und sich dann beim Erzählen weiter positiv auswirken. Ein kleiner Schneeballeffekt also. Erzähle ich mir aber selbst öfter negative Geschichten, dann werden mehr Stresshormone ausgeschüttet und ich fühle mich dabei insgesamt schlechter. 

Tatsächlich können wir also dadurch, wie wir uns die Geschichten unserer Erlebnisse erzählen, nicht nur in dem Moment des Geschehens, sondern auch im Nachhinein bessere oder schlechtere Momente schaffen.

Übrigens habe ich über dieses Phänomen auch schon mehrfach in meinem Blog geschrieben und dabei zwei Zitate erwähnt, die noch einmal gut beschreiben, worum es beim Umgang mit dem, was uns passiert, hier geht.

Im Text „Vertrauensbildende Maßnahmen“ habe ich im vergangenen Jahr davon erzählt, dass wir auf die Frage, ob wir Dinge, die uns im Laufe unseres Lebens begegnen, als gute oder schlechte Erfahrungen abspeichern, durchaus einen Einfluss haben. Und ich habe in diesem Zusammenhang den Schweizer Schriftsteller Max Frisch mit dem Satz zitiert: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“

Denn über unser Leben etwas zu erzählen bedeutet immer, eine (unbewusste) Entscheidung darüber vorzunehmen, wie wir es dabei interpretieren und bewerten, und in der Konsequenz können wir wahrnehmen, ob uns das stärkt, schwächt oder gar nicht weiter tangiert.

Und ein Jahr vorher habe ich im Text „Die Freiheit zwischen Reiz und Reaktion“ beschrieben, was für ein Potenzial in der Reflexion darüber steckt, welche Kräfte in uns unsere Wahrnehmung von all dem, mit dem wir konfrontiert werden, beeinflussen.

Den österreichischen Neurologen und Psychiater Viktor Frankl habe ich dabei mit den Worten zitiert: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Wenn die Schildkröte Boeier ein Mensch wäre, hätte sie die Freiheit zu entscheiden, wie sie mit dem Erlebnis mit dem Fischernetz in ihrer Erinnerung und für die Zukunft umgeht. Sie könnte selbst bestimmen, welche Geschichte sie sich von diesem Erlebnis erzählt.

Doch Boeier ist eine Schildkröte. Ob und wie sie sich an diese Erlebnis erinnert, das weiß nicht, genauso wenig wie ich weiß, wie sie sich in der Situation selbst wirklich gefühlt hat. Ich kann nur aus unserer Menschensicht darüber ein wenig spekulieren und ihr wünschen, dass es ihr nun gutgeht und sie sich auch durch den an ihr angebrachten Sender nicht zu sehr gestört fühlt.  

 

Vergesst nicht zu erleben

Das war übrigens der Punkt, auf den meine Schildkröte zu sprechen kam, als sie sich vor ein paar Tagen mal wieder bei mir sehen ließ und ich ihr von Boeier erzählte. „So einen Sender an der Schildkröte anzubringen, das ist wirklich das Allerletzte!“, brummte sie sofort verärgert. „Auf so etwas könnt auch wieder nur Ihr Menschen kommen. Wie würdest du dich wohl mit so einem Gerät fühlen? Komm bloß nicht auf die Idee, mich mit so etwas heimlich auszustatten. Dann habe ich dich das letzte Mal besucht!“

„Nein, liebe Schildkröte, mach dir keine Sorgen, ich verspreche dir, dass ich das ganz bestimmt nicht tun werde. Aber ist das tatsächlich das einzige, was du zu dieser Geschichte und meinen zwei Versionen davon zu sagen hast?“

Die Schildkröte dachte einen Moment nach und meinte dann: „ Ich weiß auch nicht, wie meine Artgenossin dieses Erlebnis empfunden hat. Und selbst wenn ich es wüsste, es wäre jetzt schon unwichtig, weil für uns Schildkröten nur der gegenwärtige Moment zählt. Boeier lebt weiter, das ist der entscheidende Punkt. Und solange sie genug Kraft zum Schwimmen und genug zu essen hat, wird es ihr schon gutgehen.“

Mit diesen Worten begann sich die Schildkröte wieder aus meinem Arbeitszimmer zu entfernen, doch dann blieb sie noch einmal einen Moment stehen und meinte: „Vielleicht ist das etwas, was du deinen Lesern von mir ausrichten kannst: Beschäftigt euch nicht zu viel mit diesen ganzen Erzählungen und Interpretationen von dem, was ihr erlebt habt. Sonst vergesst ihr darüber noch, es wirklich zu erleben ...“

Damit verließ sie mich wieder und ich musste einmal mehr über die Weisheit meiner Schildkröte staunen ...