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Die Schildkröte in der Schwitzhütte – von der Unzerstörbarkeit unserer Seele

 

Dieser August hatte einige sehr heiße Tage, und normalerweise bekomme ich da meine Schildkröte nicht viel zu Gesicht. Gestern Morgen aber sah ich sie durchs Fenster auf einmal in meinem Garten, und sie schien trotz der schon spürbaren Hitze, die mich nicht aus dem Haus lockte, recht munter zu sein.

Ich erinnerte mich daran, dass Landschildkröten zu den wechselwarmen Tieren zählen und daher stark von der Temperatur ihrer Umgebung abhängig sind. Besonders im Sommer wird diese maßgeblich durch die Sonneneinstrahlung und den Sonnenstand bestimmt.

Obwohl sie keine dauerhafte Sonnenanbeterin ist, sucht meine Schildkröte deshalb vor allem in den frühen Morgenstunden gezielt die Sonne auf. Zu dieser Zeit tankt sie Wärme, um ihren Stoffwechsel auf die notwendige Betriebstemperatur zu bringen. Sie richtet sich in einem optimalen Winkel zur Sonne aus und streckt Kopf sowie Gliedmaßen weit von sich. Das auf die Haut treffende Sonnenlicht wird in Vitamin D umgewandelt. Sobald die gewünschte Temperatur erreicht ist, beendet sie das Sonnenbaden und begibt sich in den Schatten.

Als ich so über das Verhältnis meiner Schildkröte zu Hitze sinnierte, musste ich plötzlich lächeln, denn mir fiel eine Geschichte über eine Schildkröte in einer Schwitzhütte ein. Ich hatte sie 2003/04 in meinem Sabbatjahr in der Milton Erickson Foundation in Phoenix erzählt bekommen.

Und ich beschloss, die Schildkröte noch weiter Wärme tanken zu lassen und Ihnen derweil  mehr über die Schildkröte in der Schwitzhütte und das, was ich mit diesem Witz verbinde, zu erzählen ...

 

Eine Art Wiedergeburt

Damals in Phoenix erlebte ich über meinen Mentor und Lebensfreund, den Psychiater, Facharzt für Psychoneuroimmunologie und Heiler Carl Hammerschlag sowie das „Turtle Island Project“, die Kraft von Ritualen in der wilden Natur, die Schönheit des „schlichten“ Seins und die Einfachheit des Lebens.

Das Turtle Island Project widmet sich als gemeinnützige Organisation der ganzheitlichen Heilungsarbeit, der Verbindung von (kopforientierter) westlicher Medizin und Psychotherapie und indigener Heilungs-(Herzens-)arbeit. Durch das Projekt lernte ich neben Carl noch Mona Polacca, eine Sozialpädagogin, Tochter von Manakaja, dem Häuptling der Havasupai, mit Hopi- und Tewa-Vorfahren in ihrer Ahnenlinie, kennen, die wie Carl eine Mitbegründerin des Projekts war.

Von Mona erfuhr ich, dass die Schildkröte in den Legenden der nordamerikanischen Natives das Urtier war, das die Welt auf ihrem Panzer trug und sie hütete. Sie wird als Urmutter von „Turtle Island“ gesehen (dem Namen der indigenen Völker für die Mutter Erde) und hat die Welten über Jahrtausende hinweg beschützt.

Eines Tages bereitete ich bei einem gemeinsamen Retreat mit Mona und Carl eine Schwitzhüttenzeremonie vor. Für den Fall, dass Sie noch nie davon gehört haben: Eine Schwitzhütte („Inipi“) ist ein kuppelförmiger Bau aus Ästen, der mit Decken abgedeckt wird, sodass es im Inneren komplett dunkel ist. Draußen werden Steine über mehrere Stunden im Feuer erhitzt und während der Zeremonie in die Hütte gebracht, wo sie als „Ahnen“ mit Kräutern bestreut und mit Wasser begossen werden, sodass heißer Dampf entsteht. Die Luft füllt sich mit dem Duft von Salbei und Süßgras. Mit jedem Aufguss steigen Dampfwolken empor, legen sich auf Haut und Atem, und für einen Moment scheint die Grenze zwischen innen und außen aufgehoben.

Das Schwitzen reinigt den Körper, soll aber vor allem eine spirituelle Erfahrung ermöglichen: Die Hütte gilt als Symbol für die Gebärmutter von Mutter Erde, das Eintreten und wieder Herauskommen wird als eine Art Wiedergeburt verstanden. Gleichzeitig ist es eine gemeinschaftliche Zeremonie, die von Gebeten, Gesängen und Stille begleitet wird. Man schwitzt also nicht nur Wasser aus, sondern auch Lasten, Sorgen, manchmal Tränen. Und wenn sich nach einer Runde die Tür öffnet und frische Luft hereinströmt, fühlt es sich an wie ein neues Leben.

Währen wir vor der Schwitzhütte standen, in der wir für die Zeremonie am Abend mit den Teilnehmern des Retreats alles Nötige vorbereitet hatten und uns nun nach getaner Arbeit entspannt und heiter fühlten, erzählte uns Mona auf einmal diese Geschichte.

 

„Good Sweat!“

„Einmal vor langer Zeit”, begann Mona mit vergnügtem Blick, „versammelten sich zwei unserer Schamanen in einer Schwitzhütte. Und weil sie wussten, dass man in einer Schwitzhütte irgendwann immer auch Hunger bekommt, hatten sie überlegt, sich etwas Fleisch mitzunehmen, um es auf den Steinen zu grillen.  

Dafür hatten sie draußen allerdings kein größeres Tier, sondern nur eine Wüstenschildkröte gefunden. Aber sie dachten, das sei besser als nichts, und nahmen sie mit hinein, legten sie auf die Steinglut und wendeten sich dann ihrem Ritual zu. 

Als ihre Schwitzhütte nach drei Runden zu Ende war, schauten sie hungrig zur Schildkröte, um ihren Garzustand zu testen. Die aber erhob sich, als wäre nichts gewesen, vom Grillstein und streckte die Beine aus dem Panzer heraus, verließ vor ihren erstaunten Augen völlig unbeeindruckt die Schwitzhütte und murmelte dabei nur die Worte: ‚Good sweat!‘“

Carl lachte laut auf, und auch Mona stimmte in das Gelächter mit ein. Ich gestehe, dass ich hingegen im ersten Moment ein wenig verwirrt war. Denn die Geschichte klang natürlich völlig absurd: Ein Schamane würde nie ernsthaft auf die Idee kommen, ein Exemplar der so verehrten Schildkröten zu grillen, und schon gar nicht im Rahmen einer Schwitzhüttenzeremonie.

Deswegen, wurde mir schnell klar, war das ein Witz, mit dem Mona und die Menschen, von denen sie diese Geschichte gehört hatte, die Zeremonie in der Schwitzhütte etwas auf die Schippe nehmen konnten, ohne ihr damit etwas von ihrer Feierlichkeit und Würde zu nehmen. Das gefiel mir so, das ich auch unwillkürlich zu lachen begann und mich am Witz der Geschichte erfreute.

 

Was bleibt, wenn alles vergeht?

Ich habe Mona nicht weiter dazu befragt, aber in den Tagen danach musste ich immer wieder an die Pointe denken. Und mir wurde bald klar, dass darin noch viel mehr steckte als nur ein Witz über die Fähigkeiten einer Schildkröte in einer Schwitzhüttenzeremonie. Die Schildkröte zeigt sich hier als unglaublich anpassungsfähig – was sie ja auch wirklich ist – und einfach unzerstörbar in ihrem Panzer.

Wenn man dann dazu bedenkt, dass sie in vielen Geschichten der indigenen Völker als Hüterin universeller Weisheit gesehen wird, dass sie dort fast schon so eine Art Göttlichkeitscharakter hat und als die Seele unter den Tieren gilt, hat diese Unzerstörbarkeit eine tiefe Bedeutung.

Wir können den Körper der Schildkröte verletzen, ihre Gliedmaßen abschneiden, sogar Schildkrötensuppe kochen, aber die indigenen Völker glauben auf jeden Fall fest daran – sonst gäbe es diese Geschichte nicht –, dass sie trotzdem im Inneren unverletzlich ist, so wie auch unsere Seele wandelbar, frei und unzerstörbar ist.

Die Idee dahinter ist, dass uns unsere Mutter Erde nährt und dass wir unser irdisches Leben hier leben, aber dass wir alle ursprünglich von den Sternen kommen und auch wieder dahin gehen.

Die Überschrift für diese Art von Thematik lautet Spiritualität, darin steckt das Wort Spirit oder Geist, und natürlich ist es da eine ganz individuelle Frage, was wir glauben oder was wir nicht glauben. Es gibt unterschiedliche Haltungen dazu, und wir modernen Menschen tun uns schwer mit der Beschäftigung damit.

In unserer modernen Welt verschieben wir diese Fragen gern auf später. Wir kümmern uns um Patientenverfügungen, Versicherungen, Termine. Aber die Frage nach dem, was bleibt, wenn alles vergeht – die schieben wir mitunter beiseite.

 

Der Spirit der uns trägt

Obwohl wir alle wissen, dass wir eines Tages diese Erde verlassen müssen, finde ich es bemerkenswert, wie sehr wir dieser Frage aus dem Weg gehen: Glaube ich, dass alles vorbei ist, wenn mein Körper zerfällt – oder glaube ich, dass ich dann noch einmal an einen anderen Ort gehe?
Sich damit auseinanderzusetzen bleibt immer etwas sehr Persönliches, etwas zwischen mir und dem, woran ich glaube. Es lässt sich nicht verallgemeinern.

Natürlich gibt es Geschichten, an die ich eher glauben möchte, oder Witze, über die ich leichter lachen kann. Doch steckt darin immer auch eine Einladung, mich mit den Fragen zu beschäftigen, die darin verborgen sind – und meine eigenen Antworten darauf zu finden. Sicherlich gibt es auch jüngere Menschen, die sich diesen Themen stellen. Und mit zunehmendem Alter sammeln wir Erfahrungen, spätestens dann, wenn die Eltern sterben. Wo sind sie dann? Meine Mutter, die Ende des letzten Jahres gestorben ist, war in der letzten Woche vor ihrem Tod fest davon überzeugt, dass sie nach dem Sterben in die geistige Welt überginge.

Manche von uns sind sich in der Tiefe ihres Glaubens vollkommen sicher, dass der Spirit überall lebt. Und die indigenen Völker glauben das ohnehin. So, wie sie auch glauben, dass die Urschildkröte – Turtle Island – ihre Welt – trägt. Wenn ich mir überlege, was dieses Bild eigentlich bedeutet, wird mir bewusst: Diese Schildkröte balanciert nicht einfach nur eine Last auf ihrem Rücken, während sie durch die Gegend stapft. Sie trägt uns alle – mit ihrer Weisheit, ihrer Kraft als Hüterin. Mit ihrem Spirit. Und dieser Spirit, der uns trägt, kann überall wahrnehmbar sein: im Tautropfen, in der Brise des Windes oder im Lachen eines Kindes.

 

Einfach weitergehen

Während ich das für Sie aufschreibe, ertappe ich mich dabei, dass ich wieder lachen muss. Und plötzlich taucht lautlos die Schildkröte neben mir auf, reckt ihren Kopf ein wenig und fragt: „Worüber lachst du?“

„Hallo, liebe Schildkröte“, sage ich erfreut zu ihr, „da bist du ja mal wieder! Ach, ich schreibe gerade einen Text mit einer lustigen Geschichte über eine Schildkröte in einer Schwitzhütte, die mir vor vielen Jahren einmal erzählt worden ist.“

Ich erzähle ihr die Geschichte und meine Gedanken dazu. „Good sweat! Ganz schön respektlos gegenüber uns Schildkröten klingt diese Geschichte“, brummt sie, als ich fertig bin, und schüttelt den Kopf. „Aber mir gefällt, wie diese Wüstenschildkröte einfach stolz hinausschreitet. Doch was findest du daran so lustig?

„Ich musste“, versuche ich zu erklären, „einfach darüber lachen, wie deine Artgenossin einfach völlig selbstverständlich von den glühenden Steinen heruntersteigt, als wäre nichts gewesen und als könnte ihr nichts etwas anhaben. Ich finde das gleichzeitig sehr lustig und auch einfach großartig!“

Meine Schildkröte schweigt einen Moment und meint dann: „Vielleicht ist das so, dass ihr das nichts anhaben kann. Vielleicht aber auch nicht. Entscheidend ist doch: Wir Schildkröten verschwenden unsere Zeit nicht damit, das herauszufinden. Wir gehen einfach weiter. Ihr Menschen seid da anders ...“

„Ja“, nicke ich, „wir müssen immer grübeln, zweifeln, Fragen stellen, nach Antworten suchen …“

Die Schildkröte zwinkert mir zu und setzt meinen Satz fort: „... und manchmal vergesst ihr dabei das Lachen. Das Schwitzen. Das Leben. Vielleicht ist ja eure Seele auch längst unzerstörbar – und ihr habt nur noch nicht verstanden, dass sie wie die Schildkröte in deiner Geschichte wieder alles verlassen kann, was sie beschwert.“

Ich will ihr noch antworten, doch sie trottet schon davon. Langsam, gelassen, in ihrem eigenen Rhythmus. Kurz bevor sie durch die Tür verschwindet, dreht sie noch einmal den Kopf und fragt: „Und du – was glaubst du eigentlich? Ist deine Seele unzerstörbar?“

Die Frage hängt in der Luft wie ein Nachhall, sanft und zugleich beharrlich. Sie sucht nicht nach einer schnellen Antwort – sie will weitergetragen werden. Von mir. An Sie. Und vielleicht auch von Ihnen an andere ...