Mein Gespräch mit der Ich-bin-ich-Schildkröte
Vor ein paar Tagen, als ich gerade meinen neuen Blogtext über die Frage „Was soll ich denn bloß machen?“ fertigstellte, kam mich meine Schildkröte wieder einmal besuchen. Wie immer kam sie bedächtig hereingeschlichen, näherte sich meinem Schreibtisch und fragte: „Was machst du da gerade?“
Ich musste spontan lachen, weil sie nach meinem „Machen“ fragte und damit genau das Thema ansprach, von dem auch mein Text handelte.
„Warum lachst du denn über mich?“, fragte sie misstrauisch, und ich meinte herauszuhören, dass sie etwas gekränkt deswegen war.
„Ach, meine liebe Schildkröte, ich lache doch nicht über dich. Ich finde es nur lustig, dass du mich jedes Mal fragst, was ich so mache, ich aber diesmal genau über dieses ‚Machen‘ etwas schreibe.“
„Das, was du gerade machst, ist, einen Text über das Machen zu schreiben?“, fragte die Schildkröte, und ich konnte ihr ansehen, dass sie das wohl etwas schräg fand. „Wozu soll das gut sein?“
Und so begann ein weiteres Gespräch mit meiner Schildkröte: über das Machen und über die Frage, was uns Menschen, aber auch Schildkröten und andere Tiere eigentlich ausmacht.
Wir machen einfach
„Der Text“, versuchte ich ihr zu erklären, „dreht sich darum, dass viele Menschen oft nicht wissen, was sie in bestimmten Situationen machen sollen, und dann immer genau diese Frage stellen: ‚Was soll ich denn bloß machen?‘ Sie sind ratlos und unsicher und haben Angst, dass sie etwas Falsches machen könnten.“
Die Schildkröte schüttelte den Kopf und schwieg einen Moment. Das schaute sie mich an und sagte: „Das ist wieder so ein typischens Menschending! Keine Schildkröte käme je auf die Idee, eine solche Frage zu stellen. Wir machen einfach, und fertig! Ich weiß gar nicht, was es da zu fragen geben könnte ...“
„Da fällt mir auf, liebe Schildkröte“, sagte ich erstaunt, „dass ich gar nicht so genau weiß, was du eigentlich die ganze Zeit machst. Du fragst mich immer, was ich mache, aber ich habe dich das nur selten gefragt. Du tauchst hier ab und zu auf, dann führen wir schöne Gespräche. Manchmal sehe ich dich irgendwo im Garten, aber für den Großteil deines Tages weiß ich überhaupt nicht, was du treibst.“
„Ich wüsste auch gar nicht, was ich auf eine solche Frage danach antworten sollte“, knurrte die Schildkröte. „Ehrlich gesagt, denke ich darüber gar nicht weiter nach. Ich mache das, was mir gerade in den Sinn kommt, und ganz viel hat das damit zu tun, dass ich hungrig bin und ja irgendwie und irgendwo etwas zu fressen bekommen muss. Du stellst mir zwar manchmal etwas hin, das ist auch sehr nett, aber allein damit wäre ich nicht satt und zufrieden ...“
Hörte ich da einen kleinen Vorwurf in ihrer Stimme? Aber bestimmt bildete ich mir das auch nur ein, und tatsächlich sprach die Schildkröte danach ganz friedlich weiter: „Das ist auch in Ordnung so, ich will gar nicht so ein abhängiges ‚Haustier‘ sein wie deine Katzen, ich bin froh, dass ich mein Futter selbst finden kann. Auf jeden Fall mache ich um das Machen kein so großes Palaver.“
„Du kannst froh sein“, erwiderte ich, „dass du so bist. Wir Menschen tun uns da schwerer, weil wir oft den Kontakt zu unserer inneren Mitte verloren haben und deswegen dann etwas orientierungslos durchs Leben laufen.“
„Ja“, nickte die Schildkröte, „deswegen tut Ihr Menschen mir auch irgendwie leid. Ihr seid so intelligent und machtvoll, und doch immer wieder voller Unsicherheiten. Zu was für Themen schreibst du deinen Lesern denn sonst noch? Dreht sich das auch um so komplizierte Fragen?“
Ich bin ich
„Ich habe mich“, erklärte ich ihr, „in diesem Jahr in den Texten unter der Fragestellung ‚Was bedeutet es, Mensch zu sein?‘ schon mit den verschiedenen Facetten beschäftigt, die uns Menschen ausmachen: mit unserem Geist, unseren Gefühlen, unserem Körper, unseren Beziehungen zu anderen und schließlich unseren Beziehungen zu uns selbst Denn alle diese Aspekte sind Teile von uns, derer wir uns aber gar nicht immer bewusst sind.“
Wieder nickte die Schildkröte. „Ja, so etwas hatte ich schon erwartet. Das sind wirklich typische Menschenthemen und würden keine Schildkröte und auch kein anderes Tier interessieren. Aber ich finde es gut, dass du solche Themen aufgreifst und den Menschen damit ein wenig Orientierung anbietest. Sie scheinen das zu brauchen.“
Sie schwieg einen Moment und meinte dann: „Du hast von Dingen geprochen, die euch Menschen ausmachen. Auch wieder so ein Machen-Wort. Was bedeutet das genau?“
„Dahinter steckt die Frage, wer wir Menschen eigentlich sind. Viele von uns versuchen, in ihrem Leben vor allem zu funktionieren, allen Erwartungen von anderen gerecht zu werden, und dabei verlieren sie die Empfindung dafür, wer sie wirklich sind, welche Bedürfnisse und Ziele sie eigentlich haben. Sie werden sich dadurch selbst fremd und entwickeln dann Symptome psychischer Erkrankungen.“
Die Schildkröte hörte aufmerksam und mitleidig zu, unterbrach mich aber nicht.
„Es gibt da übrigens ein wunderschönes Kinderbuch“, fuhr ich fort und ging zu meinem Bücherregal, „das sogar von Tieren handelt. Es heißt ‚Das kleine Ich bin ich‘. Darin geht es ...“ – ich zeigte ihr das Buch, das sie interessiert betrachtete – „... um ein kleines, farbenfrohes Wesen, das nicht weiß, zu welcher Tierart es gehört. Auf seiner Wanderung über eine Blumenwiese begegnet es zunächst einem Frosch, der neugierig fragt, was es denn sei. Doch das Tierchen kann ihm keine Antwort geben. Verunsichert macht es sich auf den Weg, um verschiedene Tiere – darunter Pferde, Fische, Vögel, Nilpferde, Papageien und Hunde – um Rat zu fragen.“
„Es fragt keine Schildkröte?“, unterbrach mich meine Gesprächspartnerin, hörbar enttäuscht.
„Nein, leider nicht“, bestätigte ich, „daran hat die Autorin wohl nicht gedacht.“
Die Schildkröte brummte etwas Unverständliches, schaute mich aber an und schien auf die Forsetzung meiner Erzählung zu warten.
„Auf jeden Fall“, fuhr ich also fort, „kann niemand dem kleinen Wesen sagen, wer oder was es ist. Traurig und zweifelnd fragt es sich schließlich, ob es vielleicht gar nicht existiert. In diesem Moment hat es eine erleuchtende Erkenntnis: Es existiert – und das genügt. Glücklich ruft es: ‚Ich bin ich!‘ und teilt diese Einsicht voller Freude mit allen anderen Tieren.“
Die Schildkröte schien der Geschichte noch etwas nachzusinnen, aber dann meinte sie: „Es ist eigentlich nicht so wichtig, ob da eine Schildkröte in dem Buch vorkommt oder nicht. Denn das Buch handelt eh wieder von so Menschenthemen, die auf uns Tiere übertragen worden sind. Wie bei diesen Fabeln von der Schildkröte, die keinen Schwanz hatte, oder von der Schildkröte und dem Hasen. Das ist alles sehr nett erzählt und für euch Menschen wunderbar, aber mit uns Tieren hat es eigentlich gar nicht viel zu tun.“
„Da hast du recht, liebe Schildkröte“, stimmte ich ihr zu, „es fällt uns Menschen leichter, über uns nachzudenken und etwas über uns zu verstehen, wenn wir es auf euch Tiere übertragen.“
„Das ist ja auch in Ordnung“, sagte die Schildkröte. „Wobei ich sagen muss, dass dieses ‚Ich bin ich‘ mir gut gefällt und schon dem entspricht, wie wir Tiere auf uns blicken. Ich bin eigentlich selbst eine ‚Ich-bin-ich‘-Schildkröte, das passt gut zu mir.“
Schwarz-gelbe Flecken
„Hast du dir denn noch nie gewünscht“, fragte ich sie, „ein anderes Tier zu sein? Wenn schon nicht eine Katze bei mir, dann vielleicht eine Wildkatze oder ein Krokodil oder ein Elefant?“
„Nein, wozu denn“, brummte die Schildkröte. „Na ja, manchmal wäre ich gerne ein wenig schneller, um eher an gutes Futter zu gelangen, so wie der Hase in der einen Fabel. Oder wie ein Leopard, von dem mir mal jemand erzählt hat – der ist ja so eine Wildkatze. Aber im Grunde bin ich zufrieden damit, wer und wie ich bin. Wie gesagt, ‚Ich-bin-ich-Schildkröte‘ trifft es schon ganz gut.“
„Wusstest du denn“, unterbrach ich sie, „dass es die Leopardenschildkröte gibt? Sie ist eine der größten Schildkrötenarten der Welt, wird bis zu 60 cm lang und wiegt im Durchschnitt 18 bis 23 kg.“
Die Schildkröte schien beeindruckt. „Und warum heißt die Leopardenschildkröte?“, hakte sie nach.
„Ihren Namen“, antwortete ich, „verdankt sie den schwarz-gelben Flecken auf ihrem Panzer. Dadurch sehen sie so ein bisschen wie Leoparden aus.“
„Schwarz-gelbe Flecken“, wiederholte die Schildkröte, drehte den Kopf und schaute auf ihren Panzer. „Das würde mir bestimmt auch stehen.“
„Die Leopardenschildkröte“, ergänzte ich, „ist noch aus einem anderen Grund interessant. Sie gehört zu den sogenannten ‚Little Five‘. Es handelt sich dabei um Büffelweber, Rüsselspringer, Ameisenlöwe, Nashornkäfer und eben die Leopardenschildkröte. Eine ziemlich seltsame Mischung von Tieren, oder? Was sie gemeinsam haben: Jedes von ihnen trägt den Namen von einem der sogenannten ‚Big Five‘-Tiere in sich. Das sind die fünf Tiere Afrikas, die bei der Großwildjagd als am schwierigsten zu erlegen galten und heute das Ziel vieler Safari-Touren sind: Löwe, Leopard, Elefant, Kaffernbüffel und Nashorn. Ihr Name leitet sich nicht von ihrer Größe ab, sondern von der Gefahr, die von ihnen ausging und die es für Jäger schwierig machte, sie zu Fuß zu erlegen.“
„Recht so!“, empörte sich die Schildkröte, „was müsst Ihr Menschen auch solche Tiere jagen. Geschieht euch ganz recht, wenn sie es euch dabei schwer machen.“
„Ja, das stimmt, liebe Schildkröte, diese Großwildjagden sind sowieso sehr dubiose Veranstaltungen. Aber weil die ‘Little Five‘ die Namen der ‚Big Five‘ mit in ihren Namen tragen, heißen sie halt so. Ich mag das, weil es ja nicht immer nur darauf ankommt, wie groß ein Tier ist, sondern auch die kleinen Tiere ganz besonders sein können in ihren Fähigkeiten und Besonderheiten. Du bist zwar nicht so schnell wie ein Leopard, aber dafür hast du deinen Panzer, in dem du dich bei Gefahr in Sicherheit bringen kannst. Das haben viele andere Tiere nicht.”
“Hm, stimmt schon”, murmelte die Schildkröte, “aber diese ganze Vergleicherei mit anderen Tieren interessiert uns sowieso nicht, das ist nur eine Idee von euch. Warum sollte ich ein anderes Tier sein? Wozu soll das gut sein?”
“Das sind halt wirklich nur Dinge, die uns Menschen beschäftigen. Viele von uns wären gerne jemand Anderes. Ich habe zum Beispiel einen Klienten, der sehr sensitiv und auch nachdenklich ist, gut zuhören kann und Tiefgang hat. Aber er ist doch unzufrieden mit sich und will unbedingt witziger sein. Vielleicht würde ihm das sogar gelingen, wenn er in dieses Thema viel Energie reinsteckt, er könnte ja zum Beispiel einen Clownskurs machen oder so etwas, aber vielleicht liegt es ihm auch nicht und er hat einfach andere Qualitäten.”
“Ach, ihr Menschen”, seufzte die Schildkröte und begann schon wieder ihren Rückweg zur Zimmertür. “Wie gut, dass du dich dieser Themen annimmst und Menschen hilfst, das zu finden, was sie ‘ausmacht’. Ich wünsche allen Menschen, dass sie mehr über sich erfahren können, aber bin auch froh, dass ich eure Sorgen nicht habe.”
Doch dann, als sie die Tür erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und zwinkerte mir zu: “Wobei ... Diese Leopardenflecken, die würden mich schon reizen. Eine ‘Ich-bin-ich-Schildkröte’ mit Leopardenflecken, das wär schon was ...” Und schon war sie durch die Tür verschwunden.

