März 2025

Innere Mitte ist eine Erfahrung
In den letzten beiden Texten für Sie hier in meinem Blog, im Januar und im Februar, habe ich über Meditation geschrieben und dabei auch den Begriff „Rumsitzen mit sich selbst“ dafür verwendet.
Ein Freund machte sich hinterher ein bisschen lustig über dieses „Rumsitzen“. Er meinte, da könne man doch auch genauso gut einfach spazieren gehen oder in Ruhe nachdenken. Wir haben das in dem Gespräch nicht weiter vertieft, doch hinterher dachte ich: Ja, man kann natürlich wirklich die Frage stellen, was es denn eigentlich bringt, seine vielen Gedanken nicht nur zu denken, sondern sich aus etwas Distanz die Existenz dieser Gedanken bewusst zu machen, ohne jedem von ihnen gleich nachzugehen. Und ebenso kann man fragen, ob der Zustand, den ich dadurch bewirke, denn wirklich ausschließlich durch Meditation erreichbar ist.
Die Antwort auf diese Fragen liegt für mich in der Erfahrung von „Innerer Mitte“. Sie knüpft an das Thema Meditation an, doch sie kann sich auch aus anderen Quellen speisen, wie etwa den Ressourcen, über die ich hier im Blog ebenfalls schon mehrfach geschrieben habe.
Denn auch die Innere Mitte ist eine Ressource – die uns dabei helfen kann, unser Leben auch in schwierigen Situationen selbst sicher anzupacken und, anstatt zu zaudern und zu zögern, trotz Ambivalenz und Unsicherheit eine gute Entscheidung treffen zu können. Das hat für mich auch etwas mit innerer Freiheit zu tun, mit der Fähigkeit, sich nicht so leicht von außen manipulieren zu lassen.
Diese Überlegungen waren mir Anlass genug, Ihnen mehr über diese Ressource und die Möglichkeiten des Zugangs zu ihr zu schreiben – und über einen kleinen Unfall, bei dem ich vor wenigen Wochen eine unmittelbare Erfahrung mit meiner Inneren Mitte machte und dem, was ich daraus schöpfen konnte.
Im Einklang mit dem, das ich für richtig halte
Innere Mitte ist für mich etwas sehr Subjektives, etwas, das wir am besten für uns selbst herausfinden können, eine individuelle Erfahrung. Sie ist beschreibbar als ein Empfinden, wenn wir mit einem hohen Maß an innerer Sicherheit unseren eigenen Gefühlen, Impulsen und Gedanken folgen möchten.
Wenn ich mich in meiner Mitte fühle und dann eine Entscheidung treffe, kann ich mir sicherer sein, dass diese Entscheidung für mich tragfähig sein wird, als wenn ich sie aus irgendeiner Stimmung heraus treffe und danach bald wieder in einer ganz anderen Stimmung bin und deswegen mit der Entscheidung hadere.
Die Innere Mitte ist also eine Konstellation, die mir innere Sicherheit gibt, ein Fundament. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Spannungen auszuhalten, mit Herausforderungen umgehen zu können und nicht vor ihnen wegzulaufen.
Ein weiterer Teil der Inneren Mitte ist, dass ich etwas sinnvoll finde, auf das ich mich ausrichten kann. Dass ich ein Ziel verfolge, von dem ich selbst wirklich überzeugt bin. Nicht weil das jemand von mir verlangt, weil das die Norm so macht oder weil ich mich selbst optimieren will, sondern weil ich – und darin liegt der Aspekt der inneren Freiheit – das in mir so authentisch wahrnehme und das, was ich tue, auch wirklich tun will.
Innere Mitte bedeutet, im Einklang zu sein mit dem, was ich für richtig halte. Natürlich kann sich das für jeden und jede von uns auch manchmal ändern – es heißt nicht, dass die Mitte immer gleich ist, sondern dass wir etwas aus einer inneren Balance heraus tun.
Die Innere Mitte ist auch nichts, in der wir uns dauerhaft befinden oder das immer gleich ist. Denn es geht dabei nicht darum, dass wir ständig in einem Idealzustand sind, sondern darum, dass uns die wirklich wichtigen Dinge besser gelingen, wenn wir sie aus einer inneren Balance heraus tun – und die ist nicht statisch, sondern dynamisch, und sie verändert sich mit den Anforderungen, denen wir uns stellen müssen.
Subjektiv muss die Innere Mitte deshalb sein, weil die Balance immer etwas mit den Bewegungen in unserem Leben zu tun hat: Ein Salto auf einem Seil erfordert zum Beispiel eine völlig andere Innere Mitte als das breitbeinige Stehen auf dem Boden, als der Hürdenlauf, als die Konzentration beim Rechnen komplexer, mathematischer Formeln, als das Klettern an einer Steilwand usw.
Deswegen ist Innere Mitte auch nichts Mittelmäßiges, sie hat nichts mit einem Mittelwert zu tun, nichts damit, immer auf einer Mittelspur zu fahren, sondern sie bewegt sich in unserem inneren Takt und Lebensrhythmus: Manchmal auch wild und ausgelassen, manchmal vielleicht zart und verträumt, manchmal ruht sie – je nach Situation.
Unterschiedliche Komponenten
Wie eng ist diese Innere Mitte nun mit Meditation verknüpft? Kann ich nicht tatsächlich ebenso mit den Spaziergängen, von denen mein Freund gesprochen hat, oder mit Sport oder auch noch ganz anderem etwas Vergleichbares finden?
Um das beantworten zu können, sollten wir bedenken, dass wir Menschen aus unterschiedlichen Komponenten bestehen.
Auf der einen Seite sind wir körperliche Wesen. Und das bedeutet, es ist gut, wenn wir unsere Körper stärken – und wir tun damit auch etwas für unsere Mitte und unsere Balance. Wenn wir im Körper beweglich sind und mehr Kraft haben, stehen wir sicherer und fester auf unseren Beinen, als wenn wir schnell umzuwerfen oder bei körperlichen Belastungen rasch erschöpft sind, oder wenn unsere Muskeln schmerzen, weil wir sie nicht genug gestärkt haben. So gesehen kann uns zum Beispiel auch eine Stärkung unserer Bauchmuskulatur im wahrsten Sinne des Wortes eine stärkere Mitte verschaffen.
Diese körperliche Seite hat auch eine Ernährungskomponente. Wenn wir oft Dinge zu uns nehmen, die wir nicht vertragen oder die unserem Stoffwechsel nicht gut tun, dann kann uns das aus der Inneren Mitte bringen, zu der im Umkehrschluss eine ausgewogene und maßvolle Ernährung sehr viel beitragen kann.
Dann gibt es natürlich in uns allen die seelische Komponente. Da geht es um die Ressourcen, die wir uns hier im Blog in früheren Texten angeschaut haben (übergreifend hier und hier, und dann speziell zu den Ressourcen Kraft und Lebensfreude, Hoffnung, Gelassenheit, sanfte Entschlossenheit, Mut und Verletzlichkeit, Mut und Bequemlichkeit sowie Vertrauen) – all das trägt ebenso zu unserer Inneren Mitte bei.
Schließlich sind wir alle auch geistige Wesen. Wenn wir Bücher oder Artikel lesen, Filme schauen, Vorträge oder Podcasts hören, die uns philosophische, mathematische, physikalische oder aus anderen Wissensbereichen stammende Erkenntnisse und Denkanstöße vermitteln, kann uns auch das ein besseres Fundament, mehr Sicherheit und Stärke geben.
Meditation bedeutet also keineswegs die alleinige Quelle unserer Inneren Mitte. Sie, wie auch andere mentale Ressourcen, kommen zusammen mit emotionalen, geistigen und körperlichen Bestandteilen. Alles zusammen wirkt sich aus und muss dann von uns in Balance gebracht werden für unsere Innere Mitte. Wie wir diese Balance nun genau erreichen, welche Anteile dabei in welcher Stärke eine Rolle spielen, und welche Rolle das Meditieren dabei spielt – das ist eben genau die subjektive, individuelle Komponente, die jede und jeder von uns selbst für sich erfahren und erproben muss.
Ob ich nun ein Fitnessstudio regelmäßig besuche, Gedichte auswendig lerne, mich intensiv mit einem Buch beschäftige, Getreidebrei mit Mungbohnen esse, im Wald spaziere oder im Schwimmbad oder irgendwo anders schwimme – so wie ich im Dortmund-Ems-Kanal – schwimmen gehe oder eben regelmäßig meditiere – das hat mit uns, unseren Fähigkeiten und Vorlieben und auch mit den Lebensereignissen zu tun, mit denen wir konfrontiert werden, die körperliche, seelische oder geistige Herausforderungen bedeuten können. Es geht immer um den Transfer in unser Leben, um die konkrete individuelle Anwendung.
Bewusstseinsweite statt Fokus
Auf jeden Fall hat unsere Innere Mitte immer etwas mit diesen unterschiedlichen Komponenten zu tun. Es gibt dann aber etwas, was uns die Meditation dafür als zusätzliche Dimension bereitstellt, das ist die Reizarmut, das ist das Entleeren unserer Köpfe. Die Befreiung vom Druck des ständigen Inputs, der Loslösung vom unaufhörlichen Beschallen, Berieseln, von (Selbst-)Optimierungssucht und von der ständigen FOMO, der „Fear of Missing Out“.
Erst das eröffnet uns den Raum, um aus allen genannten Komponenten, aus denen wir unsere Stärke speisen, eine echte Balance zu finden. Damit können wir uns vom Objekt der unterschiedlichen unendlichen Möglichkeiten zum Subjekt machen, das frei und souverän entscheidet, wie es mit ihnen umgeht.
Das ist der eigentliche Punkt bei der Meditation, und eine solche Reizarmut und Entleerung kann ich in der Tat auch bei einer Wanderung, einem Spaziergang, beim Joggen, Schwimmen oder Paddeln finden oder bei Tätigkeiten, bei denen ich die Erfahrung restlosen Aufgehens machen kann – allerdings ohne Stöpsel im Ohr, die nur wieder für neuen Ballast im Kopf sorgen würden.
Und es geht nicht nur um die Stöpsel. Wenn ich einen Spaziergang, mit jemand anderem unternehme und mich dabei mit ihm unterhalte, konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf diesen Menschen. Wenn wir aber nur nebeneinander herlaufen, einfach da sind und ohne konkretes Ziel unsere Sinne öffnen für alles um uns herum, kann eine Bewusstseinsweite im Gegensatz zum Fokus entstehen.
Das gleiche passiert, wenn ich die Geräusche in der freien Natur auf mich wirken lasse, aber nicht mit der fragenden Aufmerksamkeit, ob da jetzt die Amsel, das Rotkehlchen oder die Kohlmeise zu hören ist, sondern die Eindrücke einfach auf mich wirken lasse.
Das entspricht dann dem, von dem ich Ihnen im Februar schon erzählt habe, dem „You can rest in awareness.“ („Du kannst dich ausruhen im Gewahrsein“), und ich finde, dass man das durchaus auch außerhalb einer konkreten Meditation als eine Form von ihr verstehen kann, die unsere Innere Mitte stärkt.
Im Bruchteil einer Sekunde
Deshalb gilt das, was ich Ihnen im Februar über die Art der Wirkung von Meditation erzählt habe, für alle Formen von „Resting in Awareness“: Sie kommt meist nicht sofort, sondern später im Alltag. Wenn Studien belegen, dass durch regelmäßiges Meditieren in unseren Gehirnen neue Verknüpfungen entstehen, ist auch das hier übertragbar. Wir können mit unserer gestärkten Inneren Mitte auch unsere innere Freiheit stärken, indem wir lernen, den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu erweitern.
Diese Erfahrung habe ich vor Kurzem am Ende einer Seminarwoche gemacht, an der ich teilgenommen hatte. Ich war durch die Erfahrungen dieser Woche hoch gestimmt und half beim Aufräumen begeistert dabei, unsere Stühle einzusammeln.
Ich weiß nicht mehr, mit wie vielen Stapeln von jeweils drei Stühlen ich schon durch die Räumlichkeiten gedüst war, als ich plötzlich, mit einem dieser Stapel in den Armen, über eine Schwelle stolperte.
Wie manchmal, wenn man etwas erlebt, was eigentlich sehr schnell geht, habe ich in diesem Bruchteil der Sekunde, wo eine Stuhllehne mich unter meiner Nase traf, eine Zeitdehnung erlebt, in der mir klar wurde, dass ich jetzt eine gute Entscheidung treffen musste – denn es ging um die Frage: Falle ich jetzt oder gelingt mir noch eine sinnvolle Reaktion?
Sie gelang mir: Ich riss ein Bein nach vorne, damit ich nicht mit meinem Gesicht voll in die Stühle fiel. Das war mir in dieser Zeitdehnung total bewusst, ich wusste aber auch, dass das einen Preis haben würde, weil ich einfach zu viele Stühle in den Armen hatte. Irgendwo würde ich mich verletzen, das war in dem Moment klar, und tatsächlich trug ich aus der Situation einen schmerzhaften Sehnenriss im linken Bein davon, mit dem ich diesen ausladenden Ausfallschritt gemacht hatte.
Im ersten Moment dachte ich nach dem Sturz: Da hatte ich aber Glück im Unglück, denn es hätte weit schlimmer ausgehen können. Doch jetzt im Nachhinein weiß ich, dass ich tatsächlich eine gute Entscheidung getroffen hatte. Und dass das so glimpflich abging, hatte etwas mit dieser Entscheidung zu tun. Natürlich war da auch Glück im Spiel, aber ich hatte in dem Moment tatsächlich eine sehr gute bewusste Reaktionsfähigkeit, sowohl körperlich als auch mental.
Ich war klar, bekam keine Panik, wusste, dass ich jetzt blitzschnell entscheiden musste, traf eine gute Entscheidung und hatte dann die Kraft und die Balance dafür, diese Entscheidung sofort umzusetzen – ein Resultat meiner Inneren Mitte.
Die Balance war da
Doch die bewährte sich nicht nur in der unmittelbaren Unfallsituation, sondern auch danach. Ich hatte so eine schöne Woche gehabt – hatte mir der Unfall jetzt diese Erfahrung vermasselt? Zudem hatte ich für die kommenden Tage einen Wanderurlaub geplant. Und nun lag ich hier mit Schmerzmitteln, der Orthopäde sprach von sechs bis acht Wochen und überwies mich ins MRT. Ich fragte ihn, ob das MRT etwas an der Therapie ändern würde, was er verneinte. Ja, ich könnte den Termin auch bleiben lassen und nur hingehen, wenn es schlechter würde.
Als ich nun so in mich hineinhorchte, wusste ich, dass das alles zwar keine Bagatelle war. Aber es war auch nichts, was meine Woche komplett zerstört hätte, und ich war dazu entschlossen, dafür zu sorgen, dass es mir auch nicht meinen Urlaub vermiesen würde, der jetzt kam. Ja, vielleicht könnte ich nicht wie geplant wandern, aber es würde irgendetwas anderes Gutes passieren.
Und warum war mir das alles so klar? Weil sich trotz starker Schmerzen, trotz Frust in mir diese Instanz aus meiner Inneren Mitte heraus meldete und mir sagte, welchen Kurs ich einschlagen konnte.
Meine Meditationsübungen konnte ich mit diesen Schmerzen und meinen Bewegungseinschränkungen nicht wie gewohnt durchführen. Doch ich fand andere Wege, die es mirfür mich ermöglichten, in die innere Stille zu gehen. Während des Sturzes hatte sich meine Innere Mitte im Bruchteil einer Sekunde gemeldet, und ich verließ mich nun weiter auf sie. Es funktionierte. Sie meldete sich danach immer wieder immer zwischendurch, sobald ich nach innen lauschte. Dadurch, dass ich meine Übungen vorher die ganze Zeit gemacht hatte, war die Balance da, davon profitierte ich und musste sie jetzt nicht extra erst aktivieren.
Meine Meditationsgewohnheit hatte den Raum zwischen Reiz und Reaktion in mir etwas erweitert, was mich wiederum darin bestärkt hat, weiter zu üben, um meine Innere Mitte auf diese Weise zu stärken. Wie Sie wissen, lege ich Ihnen diese regelmäßige Meditationspraxis auch voller Überzeugung genau wie die Hypnose ans Herz. Doch wenn Sie zum Beispiel lieber spazieren gehen, dann ist das großartig.
Entscheidend ist die Wirkung: Die Innere Mitte lässt uns in Stressmomenten freier und souveräner mit den inneren Spannungen umgehen, wir sind der Dynamik des Geschehens weniger ausgeliefert.
Und auch unabhängig von solchen Extremsituationen macht uns die Innere Mitte insgesamt unabhängiger, freier im selbstbestimmten Handeln, auch und gerade, wenn es um Orientierungsprozesse in neuen Situationen geht.
Unsere Innere Mitte zu stärken sind wir alle in der heutigen Zeit sehr gefordert, weil es so viele ganz unterschiedliche und auch zum Teil sehr intensive Einflüsse von außen gibt. Wenn man in einem lauen Lüftchen am Strand steht, braucht man keine innere Mitte. Aber wenn es stürmt oder sehr schnelle Wechsel erfolgen durch Einflüsse von außerhalb, wenn die Unsicherheiten dadurch größer werden – dann brauchen wir mehr Kraft, mehr Stärke, dann brauchen wir unsere Innere Mitte.